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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Diskussion besser herausgehalten werden.
    Julian Assange, der Gründer von Wikileaks, war 2010 der intellektuelle Held und die moralische Leitfigur für viele in Europa. Er und seine Anhänger glauben aufrichtig, dass ganz allgemein gesprochen jeder alles von Wichtigkeit wissen sollte, dass Geheimnistuerei böse und Geheimdiplomatie der Ursprung allen Übels sei. Sie haben offenbar nichts von der seit uralten Zeiten geführten Debatte über die arcana imperii (»Staatsgeheimnisse«) gehört – von der Vorstellung, dass »das Ziel der Regierungskunst die Langlebigkeit und Stabilität des Gemeinwohls sein sollte«. Was politischen Denkern des 17. Jahrhunderts wie Corvinus offenkundig gewesen ist, wäre als gänzlich reaktionär zurückgewiesen worden, hätten die Kämpfer für totale Informationsfreiheit davon gewusst. Solche altmodischen Vorstellungen waren in einer Zeit verwurzelt, da die Menschen unwissend waren, was aber offensichtlich in einer aufgeklärten Welt wie der unseren nicht mehr zutraf, in der Frieden und Gutwilligkeit unter den Nationen herrschten.
    Zur gleichen Zeit wurden Carl Schmitt, der Staatsrechtler und politische Philosoph, und in geringerem Maß Leo Strauss die Helden der jungen intellektuellen Elite Chinas. Schmitt war der Protagonist des starken Staats, der Vorherrschaft des Staates, der raison d’état, über das Recht. Bei dieser Konfrontation zwischen Anarchie und Autoritätsdenken auf der internationalen Bühne konnte es wenig Zweifel geben, wer siegen würde. Wenn die europäische Wirtschaftskrise fortdauert und zahlreiche Einschnitte und Sparprogramme zwingend notwendig werden, wird es schwieriger werden, die demokratische Ordnung aufrechtzuerhalten.
    Es steht zweifelsfrei fest, dass Asien bei der neuen Weltordnung ein bedeutender Veränderungsfaktor sein wird. Was wird Europas Rolle sein? Asiatische Diplomaten sprechen von der EU ziemlich oft mit einer Mischung aus Herablassung und Unglauben. Europa ist aus ihrer Sicht ausgebrannt, eine Zollunion, die nie ernsthafte Absichten hatte, eine globale Macht zu werden. Sie finden es seltsam, dass Europa sich seiner geschwächten Position auf der Weltbühne nicht bewusst zu sein scheint und sich nicht damit abgefunden hat. Von westlichen Ermahnungen, den Menschenrechten größere Aufmerksamkeit zu widmen, sind sie nicht einmal beleidigt; sie ignorieren sie schlichtweg.
    Die »Reflexionsgruppe«, eine der informellen Denkfabriken Europas, ist optimistischer und verkündet: »Die EU kann ein Veränderungsfaktor in der Welt sein … und nicht nur ein passiver Zeuge.« Dazu bedarf es aber einer größeren Anregung: »Wenn wir zusammenarbeiten.« Das könnte eine zu optimistische Einschätzung sein, denn selbst wenn die europäischen Staaten gemeinsam handelten, könnte ihr Einfluss nicht besonders groß sein. Als die italienischen Stadtstaaten sich endlich im 19. Jahrhundert zusammentaten, war es zu spät, um ein vereinigtes Italien zu einer bedeutenden Macht nach europäischen, geschweige denn globalen Maßstäben zu machen.
    Doch wie stehen die Aussichten auf eine Zusammenarbeit? Es gibt natürlich das Bewusstsein, dass die europäischen Nationen gemeinsame Interessen haben – selbst Euroskeptiker streiten das nicht ab. Doch welcher Preis sollte für eine engere Union gezahlt werden? Wie groß sind schließlich die Gemeinsamkeiten der europäischen Staaten? Könnte nicht Lateinamerika als Vorbild dienen? Die lateinamerikanischen Länder leben in Frieden miteinander und kooperieren in einem gewissen Maß; sie haben sogar so etwas wie einen gemeinsamen Markt namens Mercosur eingerichtet. Nicht alle lateinamerikanischen Länder gehören ihm an, doch er könnte sich durchaus noch erweitern.
    Vor 200 Jahren hatte Simón Bolivar ehrgeizigere Pläne zu einer Vereinigung des Kontinents, aber sie kam nicht zustande, obwohl diese Länder mehr gemeinsam hatten, darunter (mit Ausnahme Brasiliens) eine gemeinsame Sprache. Bolivars Traum scheiterte an den lateinamerikanischen Realitäten seiner Zeit und der fehlenden Begeisterung für seine Idee. Schließlich machte er sich zum Diktator, aber das half seiner Sache auch nicht. Was verhinderte eine lateinamerikanische Einigung? Möglicherweise wurde sie nicht für notwendig gehalten. Möglicherweise wäre die zustande gekommene Union zu groß und zu »unhandlich gewesen«, und je länger die separaten Staaten existierten, desto stärker wären die persönlichen Interessen an einem Status quo geworden. Es hat

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