Europa nach dem Fall
2030
Welche Rolle wird Europa in der zukünftigen Welt spielen? Darüber haben sich Individuen wie Kommissionen den Kopf zerbrochen. Die Reflection Group (»Reflexionsgruppe«), die im Dezember 2007 ihren Bericht dem Europäischen Rat in Brüssel vorlegte, führte ihn mit den folgenden Worten ein:
»Unsere Erkenntnisse können weder der Union noch unseren Bürgern zur Beruhigung dienen: eine globale Wirtschaftskrise; Staaten als die Retter von Banken; eine überalterte Bevölkerung, welche die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Nachhaltigkeit unseres Sozialsystems bedroht; ein allgemeiner Kostensenkungsdruck; die Herausforderungen des Klimawandels und die zunehmende Energieabhängigkeit – und dazu die Verlagerung der globalen Verteilung von Produktion und Kapital nach Osten. Obendrein sehen wir uns noch bedroht durch den Terrorismus, durch das organisierte Verbrechen und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.«
Das ist eine klare, wenn auch nicht ganz vollständige Zusammenfassung der Bedrohungen Europas, wurde sie doch geschrieben, bevor das volle Ausmaß der letzten wirtschaftlichen und finanziellen Krise und deren Folgen erkannt wurden. Die Kommission fragte dann: »Wird die EU in der Lage sein, ihr Wohlstandsniveau in dieser sich verändernden Welt aufrechtzuerhalten und zu steigern? Wird sie in der Lage sein, Europas Werte und Interessen zu fördern und zu verteidigen?« Sie antwortete: »Unser Antwort fällt positiv aus.«
Eine so optimistische Antwort ist erfrischend und dürfte politisch geboten sein, aber ist sie realistisch? Europa, einst der Mittelpunkt der Welt, hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Verschiebung der globalen Machtverhältnisse erlebt. Die vollen Auswirkungen – politisch, wirtschaftlich und militärisch – wurden durch den Schutz der Vereinigten Staaten abgefedert. Amerika war eine Supermacht und blieb eine Zeit lang die einzige Supermacht. Doch nun und in den künftigen Jahren wird Amerika seine eigene Krise durchzustehen haben, und Europa wird in einem viel größeren Ausmaß auf sich allein gestellt sein.
Die irreführende Literatur aus dem Westen über das 21. Jahrhundert als dem Europas hatte sein Gegenstück in den Werken einer neuen Schar »ostasiatischer Spenglers der letzten Tage« wie Kishore Mahbubani, ein Politikprofessor aus Singapur, der auch einmal sein Land bei den Vereinten Nationen vertreten hat. Seiner Ansicht nach waren die zwei Jahrhunderte Vorherrschaft des Westens eine Verirrung, die nun ihr Ende gefunden hat, da Asien nun wieder die Bühne beherrscht (»unwiderlegliche Machtverschiebung«). Mahbubani glaubt, dass Asien dem Westen sehr viele Dinge beibringen kann, vor allem die Wichtigkeit von guter (soll heißen starker) Regierungsführung und die Wichtigkeit von Regelungen für die Wirtschaft, die stärker sind als die Banken und die Industrien; andererseits mögen die Europäer nicht so begeistert sein von den sozialen Bedingungen in Singapur und allen anderen asiatischen Staaten, die kein Arbeitslosengeld und keinen Mindestlohn vorsehen. Asien kann eine führende Rolle bei der Sicherung der Schulbildung wie auch beim Klimawandel übernehmen.
Asien wird den Westen nicht nur in der Produktion übertreffen (so Mahbubani), sondern besitzt auch die moralischen und ethischen Werte, um in den kommenden Jahren der Welt den Weg zu weisen.
In diesen asiatischen Übertreibungen mag mehr Realismus stecken als in den früheren europäischen und amerikanischen Phantasien über die Zukunft Europas, aber sie bleiben dennoch zweifelhaft. Die Wirtschaftswachstumsraten in China und Indien sind überaus beeindruckend gewesen, aber sie können sich so nicht fortsetzen, ohne ihren eigenen Ländern und der Welt allgemein enormen Schaden zuzufügen. Sie erzeugen innere und äußere Konflikte, die nicht auf unabsehbare Zeit unter den Teppich gekehrt werden können. Die Schere zwischen Arm und Reich in den BRIC-Ländern (Brasilien, Russland, Indien und China) klafft in alarmierendem Tempo immer weiter auseinander, das kann sich auf längere Sicht nicht ohne soziale und politische Folgen fortsetzen. Aufgrund von Chinas wachsender politischer Schlagkraft und Selbstsicherheit werden sich seine Nachbarn bedroht fühlen und enger zusammenschließen. Asien mag wohl Europa und Amerika einiges beibringen können hinsichtlich stärkerer Regierungsmacht und besserer Bildung, aber moralische und ethische Werte, Freiheit und Menschenrechte sollten aus dieser
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