Europa nach dem Fall
sollte auf der Bevölkerungszahl eines jeden Landes basieren, was praktisch hieß, dass die meisten kleinen Länder die Hälfte ihrer Stimmen verlören, wohingegen ein Staat wie Deutschland seinen Stimmenanteil verdoppeln würde. Es sollte ähnliche Änderungen betreffs der Wahl der Europäischen Kommission geben. Die Rechte des EU-Parlaments blieben andererseits eingeschränkt. Im Lauf der Zeit hat die EU um die 90 000 Bestimmungen erlassen, von denen etwa 80 000 vom Europaparlament nicht abgeändert werden konnten, geschweige denn von Nationalregierungen. Sie regeln, um ein häufiges (aber nicht atypisches) Beispiel anzuführen, unter anderem die Größe von in den Handel gelangenden Erdbeeren.
Es bestand die Gefahr, dass die ausführliche Beschäftigung mit solchen Details der Sache der europäischen Einheit nicht förderlich sei und viele der Bestimmungen wahrscheinlich nicht durchgesetzt werden könnten, weil kein Mechanismus zur gesetzlichen Kontrolle und Umsetzung vorhanden war. Die Gefahr lag nicht bloß in der Überbürokratisierung und der Detailflut. Solche Praktiken würden zu Verstimmungen auf dem ganzen Kontinent führen, weil die große Unterschiedlichkeit der Bedingungen in den 27 Mitgliedsstaaten dafür sorgte, dass eine strikte und unterschiedslose Einhaltung der Bestimmungen zwangsläufig Absurditäten zur Folge hätte. Wenn andererseits die EU Hunderttausende Taschenkalender an Schulkinder verteilen würde, in denen die Daten für den Ramadan, aber nicht für Weihnachten angegeben wären, und wenn einige europäische Staaten wie Italien und Polen dann protestierten, wer würde dann entscheiden, was getan werden sollte? Das Grundproblem bestand natürlich darin, dass die geänderten Regulierungen es nicht leichter machten, zu einer Übereinstimmung bei entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Fragen zu kommen, die Größe von Erdbeeren einmal außer Acht gelassen.
In den kommenden Jahren werden die europäischen Länder mit sehr ernsten inneren Spannungen konfrontiert werden. Um ihre schwere Schuldenlast abzutragen, werden sie ständiges Wachstum brauchen. Aber es werden auch Jahre der Einschnitte und Einsparungen sein, gar nicht zu reden vom Widerstand gegen Kürzungen. Junge Leute sind in einem Zeitalter aufgewachsen, in dem höhere Bildung kostenlos oder zumindest nicht teuer war. Ältere Menschen sind in großem Ausmaß auf Zahlungen der Sozialversicherung und die Arbeitslosen auf ein Mindestmaß an materieller Hilfe angewiesen, um überleben zu können, doch es wird Kürzungen in all diesen Bereichen wie auch bei der Gesundheitsversorgung und Bildung geben. Der Kuchen (oder das Brot) wird immer kleiner, und jeder Sektor der Bevölkerung wird darum ringen, nicht zu den Verlierern zu gehören. In gewisser Weise wird es ein Generationenkonflikt sein. Die erhöhten Studiengebühren werden für die Jungen eine große Härte und für die Länder einen herben Rückschlag bedeuten. Doch wenn ihren Forderungen stattgegeben wird, wird es bedeuten, dass andere Sektoren der Gesellschaft wie die Älteren und die Arbeitslosen mehr zu leiden haben. Da es in allen europäischen Gesellschaften nun weniger junge Leute als mittelalte und ältere gibt, werden die Jungen in einer demokratischen Gesellschaft im Nachteil sein – was heißt, dass die europäische Demokratie ebenfalls von verschiedenen Seiten unter Druck gerät; wird sich die Straße gegen das Parlament stellen? Es wird gewissermaßen einen Klassenkampf geben, aber auch Generationenkonflikte.
In der Zukunft könnte es auch zu einer Konfrontation zwischen strategischen wirtschaftlichen Schlüsselbereichen kommen; wenn Arbeiter in diesen Bereichen streiken, gerät die Wirtschaft schnell ins Stocken, wohingegen andere, die sich in einer schwächeren Verhandlungsposition wiederfinden, die Verlierer wären, was auch ein schlechtes Sozialklima schaffen würde. Eine vollkommene oder nahezu vollkommene Gerechtigkeit ist in so einer Zeit unmöglich, und die stärkeren Elemente werden sich durchsetzen. Es wird weitaus einfacher sein, diese unvermeidlichen und schmerzhaften Veränderungen in kleineren Ländern durchzuführen, die über ein tieferes traditionelles Empfinden nationaler Solidarität verfügen, als in den größeren europäischen Ländern, in denen die Beziehungen anonymer geworden sind.
Düstere Prognosen sind über die Form gemacht worden, die diese Konflikte annehmen könnten – gewalttätige Demonstrationen, Massenstreiks, nahezu
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