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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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bürgerkriegsähnliche Zustände. Mit der geänderten Zusammensetzung der Bevölkerung könnte die Gesellschaft verletzlicher werden, als sie es lange Zeit gewesen ist. Doch vielleicht wird es gar nicht zum Schlimmsten kommen, und es ist zweifelhaft, ob Europa in seinem gegenwärtigen Zustand noch die Energie hat, solche Erschütterungen hervorzurufen – das politische Barometer zeigt derzeit eher auf Lethargie als auf Revolution.
    Die Propheten des Niedergangs haben sich häufig getäuscht. Während es immer nützlich ist, sie zu studieren, wissen wir doch, dass Malthus mit seiner Vorhersage über das Bevölkerungswachstum und künftigen Hunger ziemlich falsch lag. Spengler war ein gebildeter Mann, doch seine Vision des Aufstiegs der jungen Völker wie der Deutschen und der Russen hätte nicht irriger sein können. Mackinder, einer der Pioniere der Geopolitik, überschätzte gehörig die Konsequenzen der Verbesserung der Transportwege. Er sah den Niedergang des Vereinigten Königreichs richtig voraus, so wie auch Dangerfield in seinem berühmten Werk über den britischen Niedergang in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Doch wenn diese Propheten manchmal zu richtigen Schlussfolgerungen kamen, beruhten diese ziemlich oft auf falschen Voraussetzungen. Brooks Adams, ein Urenkel von John Adams, wurde viel gelesen, und sein Law of Civilization and Decay (1895) über die kaufmännischen Akteure, deren Gier Gesellschaften zu Misstrauen und Unehrenhaftigkeit führte, lohnt heute noch das Lesen. Er sagte 1900 auch voraus, dass New York sich als das kommerzielle Zentrum der Welt entwickeln würde. Doch er dachte auch, dass der Niedergang des Westens schon im Mittelalter begann und begründete das mit der über Jahrhunderte hinweg versäumten Orientierung auf martialische Werte.
    In unserer Zeit verwiesen Paul Kennedy und andere auf den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten, aber das war kein besonders gehütetes Geheimnis. Die herausragende wirtschaftliche und politische Stellung Amerikas unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war beispiellosen Umständen zu verdanken, nämlich dem Krieg, und konnte daher nicht bestehen. Doch im Hinblick auf Europa und Japan irrten sich diese Propheten. China und Indien tauchten in ihren Zukunftsvisionen kaum auf, und niemand sah den Fall der Sowjetunion voraus. Viele von ihnen gaben die Schuld am Niedergang der USA der »imperialen Überanstrengung«, doch diese Erklärung passt kaum für den Niedergang Europas, der sich im Gegenteil im letzten Jahrhundert wegen der Entkolonialisierung und anderer Faktoren verstärkt hat.
    Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen den »Niedergangspropheten« von früher und denen, die den Niedergang des heutigen Europa vorhersagen. Die Propheten von früher beschäftigten sich mit zukünftigen Entwicklungen, wohingegen die heutigen sich mit Entwicklungen auseinandersetzen, die größtenteils bereits eingetreten sind.

Ein marginalisiertes Europa
    Warum hat Europa es nicht geschafft? Dafür gibt es eine Vielfalt von Gründen und noch mehr Erklärungen, von denen einige hier schon erwähnt wurden. Die Loyalität der Europäer hat jahrhundertelang in erster Linie immer dem Nationalstaat gegolten, während die Idee einer europäischen Solidarität jüngeren Datums ist. Die Unterschiede in Weltanschauung, Kultur und Lebensart zwischen den vielen Ländern sind beträchtlich. Es gibt keine gemeinsame Sprache und wenig Vertrauen. Niemand ist bereit, souveräne Rechte an eine Zentralmacht abzugeben, die kein großes Zutrauen erweckt und wenig Führungsqualitäten gezeigt hat.
    Der Niedergang Europas, das einst das Zentrum der Welt war, lässt sich vor allem als ein Niedergang des Willens und der Dynamik interpretieren – oder als Abulie, um einen Begriff zu gebrauchen, der in Frankreich im 19. Jahrhundert in der Psychiatrie auftauchte. Im ganzen Verlauf der Geschichte sind dominante Mächte aufgestiegen und wieder verfallen. Verausgabung ist in einigen Fällen als Ursache genannt worden, militärische Niederlage in anderen. Ökonomische und demografische Faktoren waren in einigen Fällen beteiligt – Portugal und die Niederlande waren offenkundig zu klein, um als große Reiche zu bestehen. Der Aufstieg neuer Religionen bietet in einigen Fällen eine Erklärung; Klimaveränderungen oder plötzliche Pandemien werden als entscheidende Faktoren für Aufstieg und Fall bei anderen angeführt. Manche Großmächte sind aufgrund ihrer Dekadenz

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