Europa nach dem Fall
verfallen, die wiederum wahrscheinlich durch Luxus herbeigeführt wurde; andere scheiterten, weil sie verarmten.
Doch während in einigen Fällen die Gründe für Aufstieg und Fall offenkundig erscheinen, sind sie es in vielen anderen nicht. Manche Mächte schienen in einem unausweichlichen Niedergang begriffen, erholten sich aber plötzlich ohne ersichtlichen Grund wieder. Frankreich nach der Niederlage durch Deutschland 1870/71 ist ein interessantes Beispiel. Andere haben nicht so viel Glück gehabt. Demografen haben die Hypothese von der niedrigen Fruchtbarkeitsrate als Falle diskutiert, also die Frage gestellt, ob Länder mit einer geringen Fruchtbarkeit sich noch erholen können, besonders wenn die Geburtenrate sehr tief gesunken ist. Es erscheint als gesichert, dass die Bevölkerungsgröße in globalen Angelegenheiten ein wichtiger Faktor bleiben wird, doch wie wichtig genau, können wir aufgrund der Unvorhersehbarkeit des technologischen Fortschritts nicht wissen.
Warum wurde Europa marginalisiert? Die beiden Weltkriege, die einige als europäische Bürgerkriege betrachten, spielten eine entscheidende Rolle. Doch sie schufen auch den Antrieb zur Gründung der Europäischen Union. Europas Erholung nach 1945 machte die Herausbildung des Wohlfahrtsstaates möglich, doch es bedeutete auch, dass Europa mit Niedriglohnländern nicht mehr konkurrieren konnte. Vor allem gab es aber das Verlangen, keine wichtige Rolle mehr in der Weltpolitik zu spielen; »die Bürde des weißen Mannes«, die darin bestanden hatte, den Heiden das Christentum zu predigen, wandelte sich nun zur Predigt von den Menschenrechten vor Ungläubigen.
Die Europäer begriffen jedoch nicht ganz, dass das Sich-Heraushalten aus der Weltpolitik keinen Schutz vor den Folgen der Weltpolitik bot, und das zu einer Zeit, da wir in einer keineswegs friedlicher gewordenen Welt leben, wo die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Kampf um Rohstoffe sowie auch extremistische Religionen und gescheiterte Staaten (manchmal in Wechselwirkung) ernsthafte Bedrohungen des Weltfriedens darstellen.
Europa ist nach 300 Jahren der Dominanz schrittweise an den Rand gedrängt worden, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen wird. Was Nietzsche den »Willen zur Macht« nannte, ist verschwunden und ist selbst unter den traditionellen Anhängern der Rechten kaum mehr zu finden. Selbst die Faschisten von heute träumen nicht von Aggression und Expansion. Ihr Faschismus ist defensiv – sie wollen andere draußen halten. Vielleicht ist es ein natürlicher Verfallsprozess aufgrund von Erschöpfung. Er ließe sich durch die Verjüngung des Kontinents umkehren, doch es ist schwer abzusehen, woher eine solche Wiederbelebung kommen könnte; der Kontinent altert, die Geburtenraten sind niedrig, und die Einwanderer, die sich zur Rettung des europäischen Lebensstandards anbieten, erscheinen nicht als die idealen Kandidaten und sehen ohnehin die Wiederverjüngung Europas nicht als ihr großes Ziel.
Vor einigen Jahrzehnten machte der Slogan »Small is beautiful« in Europa die Runde, und es lässt sich in der Tat viel über die Lebensqualität in einer Kleinstadt sagen – niedlich, ruhig, gemütlich –, so wie es der romantische Maler Carl Spitzweg im 19. Jahrhundert abgebildet hat. Was für ein Kontrast zu den satanischen Fabrikanlagen der Industriellen Revolution in England. Oder zum Beispiel die Sehnsucht nach dem kleinstädtischen Leben im 18. Jahrhundert in New England. Da gab es noch, was die Soziologen eine Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz nannten. Das Leben verlief ohne Hektik, die Menschen waren freundlicher, die Landschaft war schöner, das Essen schmeckte besser und die Liebe war romantischer. Ach, früher war alles besser. Bis zu einem gewissen Grade stimmt das auch heute noch. Wenn die Banken der Wall Street kleiner gewesen wären, wäre der Schaden, den sie anrichteten, nicht so verheerend gewesen. Es könnte eine gute Idee sein, sie in Zukunft kleiner zu machen.
Doch Europäer wollen auch die technologischen Errungenschaften der modernen Welt, sie wollen länger leben und mehr Annehmlichkeiten genießen, sie wollen ein behagliches Leben führen. Doch Europa ist knapp an Rohstoffen – wie kann es also eine solche Gesellschaft aufrechterhalten, wenn es nicht wettbewerbsfähig ist?
Im 19. Jahrhundert schufen in der Schweiz Kleinstädte und Dörfer den Grundstein zu einer Uhrenindustrie, die zusammen mit dem Tourismus, dem Bankgeschäft und
Weitere Kostenlose Bücher