Europa nach dem Fall
einigen anderen Unternehmen das Land reich machte. Ließen sich ähnliche Nischen heute in der Welt der Wissensindustrie finden?
Ist demnach Europa dem Untergang geweiht? Der Niedergang erscheint jedenfalls unausweichlich. Tatsächlich hat er in beträchtlichem Ausmaß bereits stattgefunden, doch es muss nicht zu einer Katastrophe kommen – die großen Katastrophen, die über die Menschen kommen, lassen sich nicht vorhersagen, ebenso wenig wie die großen technologischen Durchbrüche. Es wird eine post-chinesische Ära genauso geben wie eine posteuropäische Ära. Die Menschen, die heute schwer, ernsthaft und unermüdlich in Ostasien arbeiten, werden zwangsläufig die Anziehungskraft von Computerspielen und zahlreicher anderer Versuchungen, Ablenkungen und Hobbys entdecken, und sie werden es langsamer angehen lassen, wenn sie materiellen Wohlstand erreicht haben. Vielleicht wird eine niedrige Geburtenrate durch die künftigen Entwicklungen der Robotik ohne Belang sein; vielleicht werden Roboter in einem altmodischen Klassenkampf um ihre Rechte kämpfen müssen. Vielleicht werden die Führer der chinesischen kommunistischen Partei ihren Anhängern erklären, dass Karl Marx immer gegen den Klassenkampf war. Vielleicht werden die Roboter europafreundlicher denken, weniger nationalistisch, und sich weniger als die Menschen von heute darüber Sorgen machen, dass sie ihre Souveränitätsrechte aufgeben könnten. Vielleicht werden die Menschen viel länger und gesünder leben. Was auch geschieht, man kann heute unmöglich wissen, auf welche Probleme China in der Zukunft stoßen wird, weil sich wissenschaftliche Durchbrüche sehr schwer vorhersagen lassen.
Die Debatte, wie mit Europas dahinschwindendem Status in der Welt umzugehen sei, hat erst kürzlich begonnen. In Wirklichkeit hat sich die Erkenntnis der europäischen Schwäche in den Beziehungen zwischen der EU und der Außenwelt offenbart, was vom Wunsch der EU, sich nicht in Konflikte außerhalb des Kontinents einzulassen, bis hin zu ausgesprochenem Appeasement reicht. Doch die Vertreter der EU und der einzelnen Völker verwenden in ihren politischen Reden immer noch die Sprache eines vergangenen Zeitalters, als Europas Wort auf dem internationalen Parkett großes Gewicht hatte. Es hat zum Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise schon alarmierende Reden über den Euro und die Eurozone gegeben, jedoch kaum eine freimütige Einschätzung von Europas Status in der Welt. Daher hat sich der Abstand zwischen seinem Einfluss in der realen Welt und seinen offiziellen Erklärungen und Forderungen (beispielsweise zu den Menschenrechten) ständig vergrößert. Diese Kluft kann Europas Prestige nur mindern.
Einige der Vorschläge für eine neue europäische Strategie, die zu Europas verminderter Macht passen würden, scheinen vernünftig, wenngleich in der Regel offenkundig und längst fällig. Es besteht vor allem Bedarf an einer wie schmerzlich auch immer ausfallenden neuen Einschätzung der Grenzen der europäischen Macht – was ein Kontinent, der erheblich an Stärke eingebüßt hat, erreichen kann und was nicht. Das bezieht sich zum Beispiel auf das Hinausposaunen europäischer Werte, das nicht nur größtenteils verhallt, sondern auch in auffallendem Gegensatz zur von Europa aktuell verfolgten Politik steht. Es versteht sich von selbst, dass Europa diese Werte nicht aufgeben sollte und dass es höchst wünschenswert wäre, wenn es sie kraftvoll und erfolgreich propagieren könnte. Doch da es dazu nicht in der Lage ist, muss es seine Politik überdenken und womöglich seine Aufrufe und Proteste minimieren.
Andere Anregungen erscheinen zweifelhaft oder gar gefährlich. Der Vorschlag, dass Europa die Politik eines umfassenden Freihandels verfolgen sollte, mag verführerisch sein, aber ganz offenkundig muss er auf Gegenseitigkeit beruhen. Ein Vorschlag, der von der Denkfabrik FRIDE kommt, zeigt die Gefahren unbekümmerten Denkens auf: Muslimische Minderheiten sollten systematisch in den politischen Gestaltungsprozess eingebunden werden, wobei die Durchsetzung außenpolitischer Ziele der EU in Nordafrika und dem Nahen Osten mit einer größeren Toleranz gegenüber ihren Rechten und Identitäten innerhalb Europas aufzuwiegen wäre.
Die Idee, dass eine höhere Toleranz gegenüber einer Minderheit zur Bedingung für außenpolitische Aktivitäten gemacht werden sollte, wirkt gelinde gesagt sonderbar. Freilich sollten die Bürger Europas die Möglichkeit haben, die
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