Europa nach dem Fall
enormer Blutzoll. Doch in den 1960er- und 1970er-Jahren hatte sich Europa in materieller Hinsicht größtenteils erholt und stand besser da als je zuvor. Es hatte jedoch nicht sein Selbstbewusstsein wiedererlangt. Schlechtes Gewissen plagte besonders die Intelligenzija der früheren Imperialmächte, und Deutschland, das für den Holocaust verantwortlich gewesen war, litt unter einem tiefen Trauma. Es war immer noch von europäischen Werten die Rede, doch ehrlich gesagt stellten die Konsumkultur und der Materialismus (nicht im philosophischen Sinne) als Lebensart sicherlich wichtigere Faktoren dar. Es gab auch noch andere Gründe für Europas Niedergang, doch die waren nicht so wichtig.
Doch Historiker wissen nur zu gut, dass das Thema Niedergang und Konsumkultur mit Vorsicht anzupacken ist, und zwar nicht nur wegen der beträchtlichen Zahl falscher Prophezeiungen in der Geschichte, in der es Fälle des Überlebens, aber auch der Erholung von Ländern und Kulturen gegeben hat. Als das Weströmische Reich fiel, wurde allgemein angenommen, dass der östliche Reichsteil bald folgen würde, doch Byzanz überlebte noch etwa 1000 Jahre. Wer hätte für Mitteleuropa auch nur eine bescheidene Erholung vorhergesagt, als 1648 der Dreißigjährige Krieg endete?
1870/71, nach dem Sieg der Preußen und seiner Verbündeten, herrschte in Frankreich die allgemeine Ansicht, dass »Finis Galliae« angebrochen sei – dass in Anbetracht der schrumpfenden Bevölkerung, des Defätismus, des fehlenden Patriotismus, der mangelnden Selbstachtung und sozialer Übel wie Alkoholismus und Erotizismus, wie es damals hieß, die Aussichten für Frankreichs Zukunft düster seien. Aber innerhalb von 30 Jahren änderte sich die Stimmung dennoch radikal. Der Defätismus wich einem neuen Selbstvertrauen bis hin zu Chauvinismus und allen möglichen Modeerscheinungen, die das Gegenteil von Dekadenz darstellten. Frankreich war wieder wer, wie es seine führenden Denker ausdrückten.
In jüngster Zeit bieten die Entwicklungen in Russland und in der Türkei in den 1990er-Jahren im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren ein interessantes Beispiel für einen raschen Stimmungswandel von Nationen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und anderen innenpolitischen Katastrophen bestand wenig Hoffnung auf eine spürbare Erholung in absehbarer Zukunft. Die Erholung Russlands setzte jedoch mit dem dramatischen Anstieg der Preise für die Öl- und Gasexporte ein.
In ähnlicher Weise war die Türkei in den 1980er- und 1990er-Jahren alles andere als ein optimistisches Land, von seiner bedauerlichen Wirtschaftslage einmal ganz abgesehen. Doch innerhalb weniger Jahre wandelte sich die Stimmung radikal vom Pessimismus zu Selbstvertrauen, sogar Überheblichkeit – Träume von einem Großmacht- oder sogar Supermachtstatus. Die Wende in beiden Staaten war verbunden mit dem Machtantritt neuer Leitfiguren und einer neuen Elite, die Selbstvertrauen, Optimismus und einen robusten Nationalismus ausstrahlte. Lassen wir einmal außer Acht, dass all dies auf schwachen Füßen stand – der Abhängigkeit vom Preis für Öl- und Gasimporte in Russland und der schwachen Infrastruktur in der Türkei. Die aufmunternde Stimmung der Meinungsführer reichte zumindest kurzzeitig aus, um weite Teile der Bevölkerung anzustecken.
Könnte es einen ähnlichen Stimmungswandel in Europa geben? Der Kontinent verfügt nicht über viele Rohstoffe, deren Export die Wirtschaftslage enorm verbessern könnte. Eine religiöse oder nationalistische Wiederbelebung (so wie in der Türkei) ist nicht in Sicht und es zeichnet sich auch keine neue Glaubensrichtung (oder politische Richtung) am Horizont ab, die einen spürbaren frischen Wind bringen könnte. In der Geschichte hat manchmal der Aufstieg einer neuen Generation zu solchen Veränderungen geführt, da die Jugend nach den Worten des Philosophen Martin Buber die immerwährende Glückschance der Menschheit ist. Doch junge Generationen haben in Europa leider auch großes Unheil angerichtet, was sich am Siegeszug des Faschismus und Kommunismus zeigt, die ursprünglich Jugendbewegungen waren. Wenn es zu einer Verjüngung Europas kommen sollte, wird sie in beträchtlichem Maße auf junge Leute nicht-europäischer Herkunft zurückzuführen sein, so wie sich die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung wandelt. Werden sie den aufmunternden ökonomischen, politischen und kulturellen Impuls geben, den ein ausgelaugter Kontinent braucht?
In Europa wird in den
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