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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Außenpolitik ihres Landes und der EU mitzubestimmen. Doch wer einigen Minderheiten Sonderrechte dafür einräumt, der öffnet gewissermaßen die Büchse der Pandora. Ein Beispiel soll genügen. In England gibt es eine beträchtliche muslimische Minderheit, die sich mit pakistanischen Forderungen identifiziert, doch es gibt auch eine etwa gleich große Minderheit aus Indien und Bangladesch, die alles andere als Sympathien für die außenpolitischen Forderungen Pakistans hat. Wenn dabei eine Seite begünstigt wird, führt das zu endlosen Schwierigkeiten, was in keiner Weise die Lage innerhalb Englands oder die Position der EU in der Welt verbessern würde. Es hat ohnehin schon häufig Beschwerden in Deutschland und im Vereinigten Königreich (sowie in anderen europäischen Staaten) gegeben, dass die bestehenden Gesetze Minderheiten gegenüber der Bevölkerungsmehrheit bevorzugen, daher wäre es nicht ratsam, Schritte zu unternehmen, die diese Spannung verschärfen würden.
    Es gibt keine Abkürzungen oder Sofortlösungen, um Europas Ansehen in der Welt zu verbessern. Beschwichtigung mag gelegentlich notwendig sein, um den häuslichen Frieden zu bewahren. Doch es gibt nur einen Weg, um Europa zu Hause und im Ausland zu stärken, wenn es nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken will. Dieser Weg ist offensichtlich. Europa muss wirtschaftlich an Fahrt gewinnen, die Länder müssen weitaus enger zusammenarbeiten, was ihre Außen- und Sicherheitspolitik betrifft, um die Grenzen ziviler Macht von heute und morgen zu begreifen. Das wird ein schmerzhafter Prozess sein, und es ist nicht sicher, ob Europa und die Europäer den Willen und die Kraft haben, ihn durchzuführen. Es gibt schließlich auch noch ein Leben unterhalb der Spitze, und in der zweiten und dritten Liga wird auch gespielt, um wieder einen Vergleich mit dem Sport zu bemühen.

Plädoyer für das dekadente Europa
    Bei der Diskussion über die Zukunft Europas fallen einem das in den 1970er-Jahren veröffentlichte Werk von Raymond Aron, Plädoyer für das dekadente Europa , und die dadurch losgetretene Debatte ein. Schon der Titel dieses einflussreichen Werks führte zu Missverständnissen. Aron gestand später ein, er hätte ursprünglich vom »liberalen Europa« schreiben wollen. In vielerlei Hinsicht gelte das, was er Europa attribuiert habe, auch generell für den Westen. Selbstverständlich war der Titel des Buches ironisch gemeint. Trotz des ihm eigenen Pessimismus glaubte Aron nicht, dass das »dekadente Europa« der überlegenen ideologischen Anziehungskraft des Kommunismus und der ökonomischen, politischen und militärischen Macht der Sowjetunion zum Opfer fallen würde. Die späteren Ereignisse rechtfertigten seine Ansichten zur Genüge.
    Die aktuellen Herausforderungen für Europa sind vom Wesen her ganz anders. Beträchtliche Teile der europäischen Intelligenzija wurden vom Marxismus-Leninismus beeinflusst, auch wenn dieser Einfluss schon vor dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums verblasste. Der chinesische Neonationalismus und Russlands »Putinismus« stellen keine solche Herausforderung dar. Obwohl die Verbreitung des Islam weltweit Fortschritte erzielt hat, zeigt die Liste der betreffenden Staaten (Afghanistan, Jemen, Gambia, Somalia, Tadschikistan, Mali, Niger, Burkina Faso, Guinea-Bissau etc.), dass dies genau die Staaten mit der höchsten Analphabetenrate auf der Welt sind. In einem fortschrittlicheren Land wie der Türkei, das einen Prozess der Islamisierung durchlaufen hat, konnte er genau im rückschrittlichen Ostteil des Landes Fuß fassen und nicht im entwickelten Westen. Einige haben daraus die irrige Schlussfolgerung gezogen, dass die Tage des Islamismus gezählt sind, weil er (trotz seines Versprechens, »Islam ist die Antwort«) keine Lösungen für die drängenden Probleme der Welt von heute anzubieten habe. Doch diese Vorhersagen wirken verfrüht, da Rückständigkeit und Analphabetentum so schnell nicht aus der Welt verschwinden werden. China mag um sein Wirtschaftswachstum und seine phänomenale Exportbilanz beneidet werden, aber das schließt nicht die Anziehungskraft seiner Ideologie mit ein.
    Doch bei seiner ganzen Liebe zum liberalen Europa war sich Aron der einsetzenden Dekadenz (oder des Niedergangs, um einen wertfreieren Begriff zu verwenden) bewusst, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen und sich nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt hatte. Die Gründe sind bekannt – die Verheerungen der beiden Weltkriege und ihr

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