Europa nach dem Fall
Pro-Kopf-Einkommen in Nigeria (150 Millionen Einwohner) und in Ägypten (80 Millionen), zwei der relativ besser situierten Länder, beträgt weniger als 3 000 Dollar im Jahr, in vielen anderen Ländern wie etwa der Zentralafrikanischen Republik beträgt es weniger als 1 000 Dollar. Niemand wird leugnen, dass es die Pflicht der reicheren Länder ist, diesen Ländern Hilfe zukommen zu lassen. Aber welche Form soll diese Hilfe annehmen? Sicher nicht die einer Massenemigration, wie auch bislang noch niemand erwogen hat, dass Europa (und der europäische Wohlfahrtsstaat) auch nur 10 Prozent der rasch wachsenden Bevölkerung Afrikas aufnehmen könnte.
Abgesehen von diesen Nöten Europas könnte es noch andere Bedrohungen geben. Der Terrorismus ist auf diesen Seiten nur nebenbei erwähnt worden, weil sich einwenden ließe, dass diese Bedrohung bislang übertrieben wurde. Doch der Terrorismus der Zukunft könnte sehr gut ganz anders aussehen als der bisher erlebte, der nur begrenzten Schaden angerichtet und zu einer begrenzten Zahl von Opfern geführt hat. Zum ersten Mal in der Geschichte könnte eine gewaltige Vernichtungskraft in die Hände von nur wenigen gelangen. Das Zeitalter der Massenvernichtungswaffen ist bereits angebrochen, und zu seinem Arsenal gehören nicht nur Nuklearwaffen, sondern auch Seuchenerreger. Europa wäre für solche Anschläge ein naheliegendes Ziel. Die Waffen mögen nie eingesetzt werden, nicht einmal von Verrückten, doch das wäre dann das erste Mal in den Annalen der Menschheit, dass einmal erfundene und hergestellte Waffen nicht benutzt worden wären.
Das Phantom des Superstaats
Viele Europäer beklagen sich heutzutage über zu wenig Demokratie, und sie befürchten wohl zu Recht, dass ein von Brüssel dominiertes Europa noch undemokratischer sein wird. Einige wenige beklagen sich über fehlende Führungsqualitäten, obwohl die sicherlich ebenso gebraucht werden wie die Demokratie. Demokratie hat die Krise in Belgien nicht gelöst, das mehr als ein Jahr ohne Regierung war. Wie viel Demokratie könnte es in einem Europa von morgen geben? Die Regelung aus dem alten polnischen Sejm (Parlament), das liberum veto , bei dem die ablehnende Stimme eines Einzelnen genügte, um jede Initiative abzuschmettern, wird garantiert nicht funktionieren. Der letzte Lissabon-Vertrag von 2009 brachte in dieser Hinsicht einige Veränderungen, die praktisch aber nicht viel bewirkten. Kein Wunder, dass während der Finanzkrise Deutschland und Frankreich sich zusammentaten, um die EU zu modernisieren und effizienter zu machen. Die beiden Länder legten auch strengere Bestimmungen und Kontrollen fest. Kein Wunder aber auch, dass andere Staaten die Bemühungen, die EU im Sinne Frankreichs und ganz besonders Deutschlands, der stärksten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent, umzugestalten, nicht mochten. Doch was war die Alternative?
Unsere politischen Philosophen aus Singapur haben wahrscheinlich recht, wenn sie vorhersagen, dass das asiatische, stärker autoritäre Modell für die Bewältigung der kommenden Aufgaben geeigneter sei. Ob es nun ein Europa oder ein Europe des patries (nach den Worten de Gaulles) geben wird, viel demokratischer als derzeit wird es kaum sein. Möglicherweise wird es im Überlebenskampf zunehmend schwieriger werden, das gegenwärtige Niveau demokratischer Freiheiten aufrechtzuerhalten.
Während ich an diesem Buch schreibe, verkünden die Schlagzeilen der Zeitungen »das Ende des europäischen Superstaats« und »Nur Deutschland kann den Euro retten«. Doch es hat nie einen europäischen Superstaat gegeben, nicht einmal eine Blaupause dafür. Deutschland mag tatsächlich den Euro retten, aber es ist zweifelhaft, ob es bei der nächsten Krise noch einmal in der Lage sein wird, die Eurozone zu bewahren, außer es kommt zu radikalen Reformen, die derzeit noch nicht in Sicht sind.
Zur Rekapitulation verweise ich auf die drei wahrscheinlichsten Szenarios für die Zukunft Europas, und nur ganz Wagemutige werden darauf wetten, für welches Modell die Europäer sich entscheiden werden – oder wohin sie ohne steuernde Eingriffe treiben werden. Die EU mag in ein paar Jahren, wenn auch nicht gleich, ganz oder teilweise auseinanderbrechen. Die stärkeren Wirtschaftszonen werden sich zusammenschließen und ein neues Rahmenwerk aushandeln. Einige historisch versierte Europa-Politiker haben den Hanse-Bund, der vom 13. bis zum 17. Jahrhundert bestand, als ein mögliches Vorbild für die Zukunft erwähnt
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