Europa nach dem Fall
zur Rettung Griechenlands und Irlands zu schaffen. Doch die Bildung einer Achse Berlin-Paris rief augenblicklich Empörung und Opposition bei den anderen EU-Mitgliedern hervor. Sie wollten sich ihre Finanz- und Steuerpolitik nicht von den beiden stärksten EU-Ländern diktieren lassen. Andererseits war klar, dass es überhaupt keinen Fortschritt geben würde, wenn nicht Berlin und Paris die Initiative zu einer Reform der EU ergriffen.
Eine solche Opposition wird zweifellos in der Zukunft auf andere Streitfragen übergreifen, sei es die Koordination innenpolitischer Maßnahmen oder eine gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik. Es könnte gut sein, dass der EU dieses Szenario bevorstehen wird: eine große, aber nicht besonders glückliche Familie, bei der einige Mitglieder nicht bereit sind, sich zu lösen, weil der Preis dafür zu hoch wäre, während sie gleichzeitig ständig nörgeln und maulen, weil ihre besonderen Interessen nicht genügend berücksichtigt würden. Auskeilend und kreischend, werden sie versuchen, den führenden Köpfen der EU die Stirn zu bieten, und mit dem Austritt drohen, aber am Ende doch bleiben. Für Europa ist das ein möglicher Weg, um zu überleben, jedoch nicht als Supermacht.
Aber es ist keineswegs sicher, dass eine Mehrheit der Europäer den Weg zu Ende gehen will, weil sie davon überzeugt sind, mit einer Bündelung der Kräfte in einer echten Einheit besser auf die kommenden Gefahren vorbereitet zu sein. Vielleicht behalten die Zweifler recht, vielleicht sind die gemeinsamen Bindungen und Werte und das gegenseitige Vertrauen nicht stark genug, um als fester Sockel für eine echte Einheit zu dienen. Vielleicht wird es ihnen, wenn jeder für sich selbst sorgt, genauso gut ergehen, wenn nicht besser als mit vereinten Kräften. Und vielleicht werden sie, wenn es ihnen nicht so gut geht, sie jedoch weniger Menschen ernähren und versorgen müssen, glücklicher leben. Selbst ein vereintes Europa könnte nicht die Kraft und den politischen Willen haben, eine wirklich wichtige Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Vielleicht werden die zukünftigen Stürme einem Europa, das in Deckung gegangen ist, nichts anhaben können. In Deckung bleiben könnte den meisten Europäern heutzutage leichter fallen, als den politischen Willen aufzubringen, wieder zu einer Großmacht aufzusteigen – das ist wahrscheinlich auch weniger riskant. Die Zeit wird es weisen. Was Aufstieg und Fall betrifft, so scheint die Bemerkung, dass alles mit Politik anzufangen und in Mystik (oder zumindest einem Mysterium) zu enden scheint, so wahr zu sein wie Charles Péguys berühmte gegenteilige Beobachtung.
Wie lässt sich sicherstellen, dass Europas Rückzug aus der ersten Reihe der Großmächte relativ schmerzlos verläuft, eher eine sanfte Landung als ein Absturz wird? Da gibt es keine Zauberformel außer vernunftgemäßem Verhalten. Psychologisch gesehen mag eine Anpassung an so einen minderen Status in der Welt einigen nicht ganz leichtfallen, die daran gewohnt sind, stark und einflussreich zu sein, denn alte Gewohnheiten gibt niemand so leicht auf. Ambitionen müssen zurückgefahren werden. Viele französische Bürger glauben, es gebe außerhalb von Paris kein Leben, so wie viele Engländer das Gleiche von London denken. Doch das stimmt einfach nicht, genauso wie die Fußballer im Irrtum sind, die meinen, das Ausscheiden aus der ersten Liga sei das Ende der Welt. Das Leben spielt sich nicht nur an der Spitze ab. Manchmal ist es sogar empfehlenswerter, nicht dort zu sein, und es besteht immer die Chance auf einen Aufstieg irgendwann in der Zukunft.
Doch es wäre ratsam, den Ausstoß an Ratschlägen für andere Länder zu verringern und auch weniger emphatisch auf die eigenen politischen Leistungen zu verweisen (freie Wahlen, Demokratie, Menschenrechte etc.). Es ist bewundernswert, dass Europa all diese Dinge erreicht hat, aber ihre Zukunft ist nicht gesichert, und ein zu beharrliches Bestehen darauf könnte kontraproduktiv sein – es wird andere Länder nicht dazu verleiten, in Europas Fußstapfen zu treten. Europa könnte sein Ansehen in der Welt verbessern, wenn es wirtschaftlich stärker werden würde, was unter den gegenwärtigen Umständen nicht leicht sein mag. Es ließe sich durch engere Zusammenarbeit in Europa erreichen, wofür die Europäer bislang aber keine größere Begeisterung an den Tag gelegt haben. Ob die »Vereinigten Staaten von Europa« einen dramatischen Fortschritt bringen würden, ist
Weitere Kostenlose Bücher