Europa nach dem Fall
tieferen Probleme viel weiter zurückreichen als zur globalen Krise von 2008. Das Land war von der Krise nicht härter getroffen worden als andere in Europa. Keine Bank ging pleite, doch die Wirtschaft stagnierte, die Produktivität sank, und Italien hatte größere Schulden als irgendein anderes EU-Mitglied. Die italienische Industrie hatte es zunehmend schwerer, auf den Weltmärkten mitzuhalten. Die Lage wurde nicht besser durch die Eskapaden seines langjährigen Ministerpräsidenten, einem der reichsten Männer im Lande. Libyen, einst italienische Kolonie, wurde zu einem der wichtigsten Handelspartner, der Banken, Ölgesellschaften und einen beträchtlichen Anteil an Juventus Turin, einem führenden Fußballverein, aufkaufte. Als Muammar al-Gaddafi 2010 Italien besuchte, wurde er als Ehrengast empfangen. Bei seinem Besuch versuchte Gaddafi, eine größere Gruppe junger Frauen, die von einer örtlichen Agentur angeworben worden waren, zum Islam zu bekehren. Gaddafi hatte nie besondere Achtung vor Europa, das, wie er in einigen Reden und Artikeln verkündete, zu einem muslimischen Kontinent mit der Türkei als fünfter Kolonne werden würde. Als sein Sohn Hannibal vorübergehend in einem Schweizer Hotel festgenommen wurde, weil er beschuldigt wurde, seine Bediensteten verprügelt zu haben, erklärte der Vater der Schweiz den heiligen Krieg. Früher schon hatte er Großbritannien schwere Vergeltung angedroht, sollte es den libyschen Beamten, der wegen des Anschlags von Lockerbie verurteilt worden war, nicht aus dem Gefängnis entlassen. Gaddafi kam auch damit durch – der libysche Gefangene kam frei. Der heilige Krieg fand nicht statt, aber zwei Schweizer Geschäftsleute, die sich zufällig in Libyen aufhielten, wurden festgenommen und trotz der Intervention des Schweizer Bundespräsidenten, der sogar in die libysche Hauptstadt flog, für beinahe zwei Jahre gefangen gehalten.
Die Beziehungen der EU mit Gaddafi sollten zumindest gestreift werden. Der Financial Times zufolge wurden dabei eklatant die Mängel der EU-Außenpolitik bloßgelegt. Nach einem Gipfeltreffen 2010 in Tripolis äußerte die EU »ihren Dank an den Führer der Revolution und das Volk der großen sozialistischen libyschen Jamahiriya für die Sorgfalt, Gastfreundlichkeit und Aufmerksamkeit gegenüber den Teilnehmern des Gipfels«. Das geschah nur wenige Wochen, bevor Gaddafi sein eigenes Volk zu massakrieren begann. Einige hielten ihn für einen Psychopathen, doch wenn das zutraf, hatte sich sein Geisteszustand während der 42 Jahre an der Macht nicht erheblich geändert. Wie dem auch sei, angesichts der Unfähigkeit Europas, seine Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen aus dem Nahen Osten und Russland zu verringern, mögen solche unwürdigen Erklärungen wohl unvermeidlich sein.
Das Vereinigte Königreich hatte (wie die Vereinigten Staaten) jahrelang übermäßig viel ausgegeben; die private Schuldenlast war höher als in anderen maßgebenden Ländern. Sie belief sich schon 1995 auf eine Billion Dollar. 2010 lag die Staatsschuld des Königreichs bei 63 Prozent des Bruttosozialprodukts, und damit noch höher als in Amerika. Die Briten standen vor allem bei den Kreditkartenfirmen in der Kreide; Schätzungen zufolge würden die Schulden pro Familie in ein paar Jahren auf 80 000 Pfund Sterling ansteigen. Die Privatschulden in Großbritannien beliefen sich 2010 auf 2 Billionen Dollar. Die neue Tory-Regierung entschied 2010, die Staatsausgaben in einem Ausmaß zu kürzen, das in Washington für politisch nicht durchführbar gehalten wurde. In Großbritannien neigten die Menschen dazu, die an der Macht befindliche Regierung für die Misere des Landes voll und ganz verantwortlich zu machen. Tony Blair und Gordon Brown wurden zu Hauptschuldigen erklärt, weshalb ihre Labour Party bei den Wahlen 2010 eine schallende Ohrfeige bekam. Doch innerhalb weniger Monate zeigten die Meinungsumfragen, dass Labour die Tories wieder überholt hatte, die gezwungen gewesen waren, sehr unpopuläre Sparmaßnahmen umzusetzen. Studenten warfen die Scheiben des Parteihauptquartiers der Tories ein. Die breite Öffentlichkeit wollte nicht einsehen, dass es eine Verbindung gab zwischen geringem Wachstum, zu hohen Ausgaben und einem jahrelangen Leben über die Verhältnisse.
Um die Lage in den Griff zu bekommen, waren drastische Maßnahmen unabdingbar – drastischer als alle seit dem Zweiten Weltkrieg verabschiedeten. Dazu gehörte die Entlassung vieler Angestellter der
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