Europa nach dem Fall
auch ihre Tage waren gezählt. Doch es war auch klar, dass es in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen einen Meinungsumschwung gegenüber den an der Macht befindlichen Parteien geben würde, wenn unbeliebte Maßnahmen anstanden. In einigen Ländern, besonders in Ungarn, fand ein deutlicher Umschwung zugunsten der Rechten und sogar der extremen Rechten statt.
Unser Hauptinteresse hat den führenden Ländern zu gelten – Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Auf der Höhe der Krise, als die Zukunft der EU auf dem Spiel stand, wurde die Meinung laut, wenn es einen Zusammenbruch gebe, müsste ein Neuanfang auf der Zusammenarbeit der großen drei oder vier aufbauen. Doch die führenden europäischen Mächte waren mit innenpolitischen Angelegenheiten beschäftigt und die Beziehungen zwischen ihnen, insbesondere zwischen Sarkozy und Merkel, waren anfangs nicht die engsten; in einem gewissen Maß lag es an den Temperamenten. Sarkozy wollte die Dinge schnell erledigt haben, wohingegen Merkel, die Europas stärkste Wirtschaftsmacht repräsentierte, auf sorgfältige Überlegung drang, da bei jedwedem Projekt Deutschland die meisten Geldmittel bereitzustellen hätte. Des Weiteren waren beide darauf bedacht, dass ihre nationalen Interessen nicht angetastet wurden. Sarkozy und Merkel standen für Kooperation in der Europapolitik, spürten aber keinen besonderen Drang, rasche Schritte hin zu einer engeren Zusammenarbeit zu machen, wohingegen das britische Konzept für ein zukünftiges Europa mehr einen lockeren wirtschaftlichen Rahmen vorsah.
Auf alle Fälle entwickelte Brüssel eigene Schwungkraft. Nach dem Lissabon-Vertrag sollte die EU einen Präsidenten (Europäischer Ratspräsident) und einen Außenminister haben. Es ist nicht sicher, ob diejenigen, die diese früheren Verträge unterzeichnet hatten, sich über die Auswirkungen im Klaren gewesen waren. Sei es, wie es ist, 2009 wurden die ersten Schritte in diese Richtung unternommen und Herman Van Rompuy, ein früherer belgischer Premierminister, wurde gewählt. Er trat sein Amt im Januar 2010 an. Zur gleichen Zeit wurde Lady Catherine Ashton einstimmig zur Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik der Union gewählt. Im Jahr 2010 wurden EU-Botschafter- und viele andere Posten vergeben (angepeilt wurde ein außenpolitischer Stab von 7 000 Beschäftigten).
Einige begrüßten diese Berufungen – Gordon Brown nannte Rompuy einen exzellenten Konsenssucher –, doch häufiger gab es Kritik. Der neue Ratspräsident der EU wurde in den Medien als Mr. Nobody bezeichnet, und als Rompuy nicht mit dem Zug, sondern in einem Fahrzeugkonvoi von Brüssel nach Paris fuhr und Sicherheitserwägungen als Grund dafür angegeben wurden, hieß es dazu allgemein, dass ohnehin niemand den Ratspräsidenten der EU erkannt hätte. Und was die unglückliche Lady Ashton betraf, so herrschte unter europäischen Parlamentariern die nahezu einhellige Übereinstimmung, dass sie keine Erfahrung, Ideen oder Pläne habe. Ihre bisherige politische Erfahrung bezog sie aus der britischen Lokalpolitik und der Kampagne für nukleare Abrüstung. Einige dieser Kritiken waren zweifellos unfair, aber es war klar, dass die Gewählten nicht gerade die stärksten und fähigsten Persönlichkeiten waren.
Doch wären machtvollere und erfahrenere Politiker erfolgreicher gewesen? Die Botschafter der EU in den Weltmetropolen konnten verkünden (was sie auch taten), dass die EU noch am Leben war, aber nicht viel mehr darüber hinaus. Ihre Aufgaben und ihr Handlungsspielraum waren nicht definiert. Sie konnten eigentlich keine europäische Außenpolitik erklären, wenn keine existierte. Waren sie mehr als Aushängeschilder (Plastikgartenzwerge), wie einige unfreundliche Kommentatoren anmerkten? Wie sah die Arbeitsteilung aus zwischen dem neuen EU-Ratspräsidenten, dem Präsidenten der Europäischen Kommission (José Manuel Barroso, dem früheren portugiesischen Ministerpräsidenten) und dem Vorsitzenden des Ministerrats, der alle sechs Monate wechselte? Es gab keinen Hinweis, dass die Nationalregierungen die Absicht hatten, ihre außenpolitischen Interessen aufzugeben, indem sie sie einer neuen Brüsseler Bürokratie überließen.
In der ganzen Geschichte der Europäischen Union gab es Zweifel und Antagonismen hinsichtlich dieser neuen Organisation und Euroskeptizismus, leicht und schwer, vor allem im Vereinigten Königreich. Doch als politische Kraft äußerte sich dies nur in begrenztem Ausmaß.
Weitere Kostenlose Bücher