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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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– hieß das wieder mehr Seminare und mehr Dialoge, oder durfte es noch etwas mehr sein? Das wurde nicht deutlich gemacht.
    Es stimmt, dass jahrzehntelang über eine schnelle Eingreiftruppe diskutiert worden war, die aus 60 000 Soldaten, 400 Flugzeugen und 100 Kriegsschiffen hätte bestehen sollen. Doch das blieb einer von vielen Entwürfen. Stattdessen fanden seit 2002 etwa 19 Minieinsätze statt, die von Bosnien bis zum Kongo, in den Tschad und nach Somalia reichten. Das waren hauptsächlich eher Ausbildungsmissionen für Richter und Polizisten als militärische Einsätze. Es wurden zum Beispiel 2 500 Soldaten nach Bosnien entsandt, 1 700 in den Tschad und 1 800 in den Kosovo. Sie durften Aufgaben ausführen wie die Bekämpfung von Piraten und die Eskortierung von Versorgungsschiffen auf See, aber der Kampf gegen Rebellen war in diesem postheroischen Zeitalter nicht erlaubt.
    Während solche Friedensmissionen nicht kleingeredet werden sollten, liegt doch auf der Hand, dass sich mit diesen Truppenstärken Situationen, bei denen gut bewaffnete und entschlossene lokale Kämpfer beteiligt sind – wie etwa im Libanon oder in Somalia – nur ungenügend bewältigen lassen. Als in den 1990er-Jahren die Notwendigkeit entstand, ein Mindestmaß an Ordnung in Europas »Hinterhof«, dem früheren Jugoslawien, zu schaffen, war die Europäische Union nicht in der Lage, die Initiative zu ergreifen, und musste sich auf die Vereinigten Staaten verlassen. Lange Zeit gab es keine Reaktion, als Griechenland um polizeiliche Hilfe an der Grenze zur Türkei bat, durch die Zehntausende illegale Einwanderer schlüpften.
    Als die Jahre verstrichen, wurde deutlich, dass sich die Hoffnungen auf eine neue und sicherere Welt nach dem Kalten Krieg nicht erfüllten. Im Gegenteil, neue Konflikte und Spannungsherde tauchten auf. China, das sich im Kalten Krieg vor allem still und bedeckt gehalten hatte, begann, stärker mit den Muskeln zu spielen, und verhielt sich gelegentlich sogar anmaßend. Die Zahl gescheiterter Staaten wuchs, darunter auch einige, die für Europa als Lieferanten wichtiger Rohstoffe von vitalem Interesse waren. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hielt an. Die NATO wurde schwächer und kam im Irak und in Afghanistan nicht gut voran. Das Interesse Amerikas an Europa nahm ab, und die außenpolitischen Ambitionen von Russland waren nicht so klar, wie es sich der Westen wünschte. Es bestand dringender Bedarf, im Mittelmeer mehr Polizeipatrouillen einzusetzen, um illegale Einwanderung und Schmuggel in den Griff zu bekommen. Doch in den Überlegungen der EU tauchten Kriegsführung und Einsatz von Gewalt nicht auf. Verteidigung war zu einem Synonym für vorbeugende Diplomatie geworden, stets unter der Annahme, eine solche Auslegung würde von allen anderen mitgetragen werden.
    Der Gedanke, dass dieser Ansatz in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht ausreichen könnte, gewann aufgrund einer Reihe von Entwicklungen zwischen 2008 und 2010 an Boden. Da war zum einen die wachsende Überzeugung, dass Europa sich nicht auf ewig auf das amerikanische Sicherheitsnetz verlassen konnte. Dazu kam die große Rezession, die in den meisten europäischen Ländern zu Kürzungen in den Verteidigungsetats führte. Es wurde immer offensichtlicher, dass die europäischen Länder aus eigener Kraft nicht mehr das Minimum an benötigter Sicherheit bieten konnten. Da es unrealistisch erschien, auf eine Initiative (geschweige denn eine volle Übereinstimmung) aller 27 EU-Mitglieder zu warten, machten zwei Länder, Großbritannien und Frankreich, welche die Hälfte der europäischen Militärausgaben stellten, einen Vorstoß. Diese beiden Länder waren die einzigen größeren europäischen Staaten (abgesehen von Polen), die 2 Prozent ihres Budgets für Verteidigung ausgaben. Zur gleichen Zeit entstand aufseiten der EU eine größere Bereitschaft, gewisse Vorstellungen von einem europäischen Sicherheitspakt in Erwägung zu ziehen, der von der russischen Führung zur Sprache gebracht worden war.
    Diese neuen Ansätze wurden begrüßt. Früher war eine enge militärische Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich in Friedenszeiten größtenteils für unmöglich gehalten worden. Doch dies erzeugte neue Probleme, da es die Idee einer europäischen Verteidigung und vor allem die Stellung der NATO unterlief. Einige Medien waren von diesen »durchschlagenden Verteidigungsabkommen« begeistert. Andere nannten dies eine »

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