Europa nach dem Fall
Antiamerikanismus bedeuten würde. Die Vereinigten Staaten waren jahrzehntelang Europas Beschützer gewesen, und wenn sie diese Funktion nicht mehr erfüllten, würden sie wahrscheinlich wiederum an den Pranger gestellt werden. Ein weiterer Grund für den Antiamerikanismus war Washingtons Unterstützung für Israel, das nach in Europa durchgeführten Umfragen als das den Weltfrieden am meisten bedrohende Land angesehen wurde – noch vor Iran, Nordkorea und anderen.
Warum billigen wir den Beziehungen zwischen Europa und Amerika eine so große Bedeutung zu? Es war und ist größtenteils eine einseitige Angelegenheit; die meisten Amerikaner waren nicht gut informiert über europäische Stimmungslagen, und wenn sie mehr gewusst hätten, wäre es für sie nicht weiter von Belang gewesen. Amerikas Aufmerksamkeit hat sich in beträchtlichem Maß auf den Pazifik verlagert und in geringerem Ausmaß auf Südostasien und den Nahen Osten. Es war womöglich symptomatisch, dass Präsident Obama während seiner ersten zwei Amtsjahre wenig, wenn überhaupt Zeit für europäische Angelegenheiten aufgewendet hat und sogar wichtigen Konferenzen, die sich mit Europas Zukunft beschäftigten, fernblieb.
Doch für Europa blieb die Verbindung nach Amerika von übergeordneter Bedeutung, nicht nur wegen der NATO, sondern auch, weil Europa sich an amerikanischen Maßstäben orientierte und die Veränderungen größtenteils ignorierte, die in der Weltpolitik und noch mehr in der Weltwirtschaft stattfanden. Als es zur Finanzkrise kam, und sogar in der Zeit danach, gab es ein beträchtliches Maß an Schadenfreude in Europa. Wir mögen gelitten haben, aber Amerika ist noch schwächer geworden, vielleicht wird es bald zusammenbrechen, schrieb der SPIEGEL , das führende deutsche Nachrichtenmagazin, im Oktober 2010. Es stimmte, dass die amerikanische Wirtschaft darniederlag, doch selbst in ihrem geschwächten Zustand war sie stärker als die in Europa. Die Wachstumsrate war höher, die Arbeitslosenrate niedriger.
Diese vorrangige Beschäftigung mit Amerika, die ziemlich oft auf keinem sehr gründlichen Verständnis dieses Staates beruhte, musste europäische Beobachter zu gefährlichen Fehlurteilen führen. Amerika war für die meisten europäischen Länder sowohl beispielhaft als auch abschreckend. Dabei vergaßen sie, dass Europa im Falle eines tief greifenden Niedergangs der Vereinigten Staaten keineswegs davon profitieren, sondern im Gegenteil politisch und wirtschaftlich darunter leiden würde. Darüber hinaus würden sich mit dem Wachstum der chinesischen und der indischen Volkswirtschaft (und einiger kleinerer asiatischer Volkswirtschaften) nicht nur neue Gelegenheiten, sondern auch neue Gefahren für Europa ergeben. Seine Abhängigkeit von Exporten wuchs, und es war mehr als wahrscheinlich, dass die von Europa exportierten Premium-Produkte allmählich in Ländern mit weitaus niedrigeren Arbeitskosten hergestellt werden würden, mit denen die Europäer nicht konkurrieren konnten.
Antiamerikanismus ist von Belang, auch wenn seine Bedeutung als politischer Faktor in Europa manchmal überschätzt wurde. Der Kontinent musste sich, um eine europäische Identität zu kreieren, von seinem langjährigen Partner und Verbündeten dis tanzieren. Wie Andrej Markovits festgehalten hat, ist Antiamerikanismus die meiste Zeit eine Eliteerscheinung gewesen; nur eine Minderheit an Europäern hatte eine negative Meinung von Amerika. Millionen haben mit den Füßen abgestimmt, wie schon festgestellt, und sind trotz aller in zahllosen Büchern und Flugschriften beschriebenen Schreckensgeschichten nach Amerika emigriert. Im 20. und 21. Jahrhundert verlief die Abwanderung von Wissenschaftlern praktisch nur in einer Richtung – nur wenige amerikanische Intellektuelle gingen, von kürzeren oder längeren Gastaufenthalten abgesehen, nach Europa. Während der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts gab es einen signifikanten Wandel in den europäischen Einstellungen gegenüber Amerika. Positive Meinungen fielen in Frankreich von 62 auf 41 Prozent, in Deutschland von 78 auf 45 Prozent und in Spanien von 50 auf 38 Prozent. Doch niemand konnte mit einiger Gewissheit sagen, wie tief diese Gefühle saßen.
Antiamerikanismus wurde beinahe zur Lingua franca der europäischen Elite, was wahrscheinlich eher kulturell als politisch begründet war. Amerika war (um wiederum Markovits zu zitieren) ungehobelt, arrogant, unkultiviert, authentizitätslos, die Menschenrechte
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