Europa nach dem Fall
bei Zaventem, Letzteres zwischen dem Brüsseler Park und dem Leopoldpark in Nähe des Bahnhofs Schuman. Doch die geografische Nähe hat nicht für enge Zusammenarbeit gesorgt, was nicht überrascht, zum einen wegen der Überschneidungen – beide Organisationen sind in einem großen Ausmaß mit denselben Fragen beschäftigt – und zum anderen aus Gründen der Rivalität, da beide Organisationen häufig um dieselben Mittel streiten. Nicht alle Mitgliedsstaaten der EU gehören zur NATO, jedoch alle größeren.
Als der Kalte Krieg aus war, dachten viele, das Zeitalter militärischer Konflikte sei vorbei und die Welt bewege sich auf internationale Zusammenarbeit, Diplomatie und weiche Macht zu. Unter solchen Umständen wäre es nicht nötig, mehr als symbolische Streitkräfte aufrechtzuerhalten. Doch dieser Optimismus hielt sich nicht lange. Seitdem haben beide Organisationen versucht, ihre Raison d’Être zu überdenken und neu zu definieren, indem sie »atlantizistische« und »europäische« Agendas, zahlreiche neue Strategien, gerechte Ausgabenverteilung, Raketenabwehr und andere Themen diskutierten. Die Beziehungen zwischen der NATO und der EU wurden auf einer Konferenz in Washington und erneut 2010 in Lissabon definiert. Die Beziehungen zwischen Russland, der EU und der NATO wurden über Jahre hinweg debattiert.
Welche Bedeutung hat die EU auf dem Gebiet der Verteidigung – ist sie ein Papiertiger oder eine ernst zu nehmende Macht? Verteidigung hat in der Geschichte der Europäischen Union eine kleinere Rolle gespielt, und zu manchen Zeiten ist sie ganz und gar ignoriert worden. In den frühen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Bemühungen, eine europäische Armee aufzustellen, doch das führte zu nichts und stattdessen entstand die NATO. Theoretisch hätte es möglich sein können, eine europäische Armee aufrechtzuerhalten, weil die Gesamtsumme der Verteidigungsausgaben der europäischen Länder sich auf 200 Milliarden Euro belief (diese Zahlen stammen allerdings aus der Zeit vor den durch die Sparhaushalte von 2011 und später verursachten Einschnitten). Doch aus einer Vielzahl von Gründen wurde nichts daraus.
Erst in jüngster Zeit wurden alle möglichen Einrichtungen wie zum Beispiel der gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsrat und die Europäische Verteidigungsagentur von der Europäischen Union gegründet, doch fast alle in rein beratender Funktion. Konferenzen und Seminare fanden statt, auf denen die globale und die europäische Ordnung diskutiert wurden, sowie auch die multipolare Welt und die unipolaren Bestrebungen und, nicht zu vergessen, der »Bogen der Verantwortung«, die »neue Sicherheitsarchitektur« und der Sicherheitsdialog. Humanitäre Aktionen wurden gemäß dem sogenannten Petersberger Abkommen (2001) geplant. Was das alles bedeutete, blieb unklar, doch es schien nicht so wichtig zu sein. Eine europäische Sicherheitsstrategie wurde erst im Dezember 2003 beschlossen und 2009 auf den neuesten Stand gebracht. Doch es war eine Strategie ohne bedeutende militärische Streitkräfte. Es gab unendlich mehr Gerede als Aktionen, mehr Seminare als militärische Manöver. Wenn ein amerikanischer Präsident einmal gesagt hatte, das Geschäft Amerikas sei das Geschäft, so war das Geschäft der EU der gemeinsame Markt, die Wirtschaft. Sie sollte sich im Krisenmanagement engagieren, sich aber nicht auf kriegerische Auseinandersetzungen einlassen.
Wenn die EU ein strategisches Konzept hatte, dann bestand es, wie bereits erwähnt, darin, dass große Kriege unmöglich geworden waren, dass mit dem Ende des Kalten Krieges die Welt sicherer geworden war. Schrittweise würde der Rest der Welt mehr oder weniger wie Europa werden, vernünftig und friedlich. Unter diesen Umständen schien die Einrichtung von europäischen Verteidigungskräften kaum notwendig. Es wären enorme Anstrengungen nötig, um die unterschiedlichen Interessen und Traditionen der zahlreichen europäischen Länder zu überwinden, eine riesige Summe Geld wäre vonnöten und das Resultat wäre ungewiss. Zusätzlich gab es ja die NATO, der die meisten EU-Länder angehörten. In Project Europe 2020 wird die Notwendigkeit kurz erwähnt, das organisierte Verbrechen und den Terrorismus zu bekämpfen, die Notwendigkeit, enge Beziehungen zu Nachbarn zu entwickeln und gemeinsam »in Verteidigung unserer Interessen« zu handeln. Doch was Verteidigung bedeutete, wurde nicht näher erläutert, genauso wenig, welche Interessen gemeint waren
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