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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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beneidet und gefürchtet
    Zwischen Europa und Amerika hat es beinahe schon seit den Tagen von Christoph Kolumbus Spannungen gegeben. Im 18. Jahrhundert schrieb der französische Abbé Raynal, der als führender Fachmann für Amerika galt, »Amerika hat alle Ströme der Verderbnis über Europa gegossen«. Von einem anderen Kleriker, dem Abbé Corneille de Pauw, stammt die Aussage: »Amerikaner, eine degenerierte Spezies der menschlichen Rasse, feige, machtlos, ohne körperliche Stärke, ohne Vitalität, ohne geistige Tiefe.« Es gab zu der Zeit die weit verbreitete Überzeugung, dass die Entdeckung Amerikas ein Fehler gewesen sei. Es gab jedoch auch berühmte andere Stimmen, wie die Goethes, und trotz der Jeremiaden von Politikern und Intellektuellen wanderten viele Millionen Europäer in die Vereinigten Staaten aus in der Hoffnung, ein besseres und freieres Leben zu finden. Es gab auch Tocqueville, der sich optimistischer über die Zukunft Amerikas als über die seines eigenen Landes äußerte – oder die Europas überhaupt.
    Einigen Besuchern gefiel nicht, was sie sahen, unter ihnen Maxim Gorki, Knut Hamsun und Ferdinand Kürnberger, der Wiener Autor des im 19. Jahrhundert berühmten Romans Der Amerikamüde (100 Jahre später wurde der Roman in Ostdeutschland mit wenig politischem Nachhall neu aufgelegt). Im Gegensatz zu dem Helden dieser Geschichte einer Enttäuschung kehrten sehr wenige Einwanderer nach Europa zurück. Die meisten blieben, bauten Amerika auf und zeigten im Lauf der Zeit genügend Vitalität, um es zu einem großen und mächtigen Land zu machen. Zur gleichen Zeit waren auch die amerikanischen Ansichten zu Europa keineswegs von Bewunderung erfüllt. Die Gründerväter ermahnten ihre Nachkommen streng, sich nicht auf Europas interne Querelen einzulassen.
    Solche Spannungen zwischen Ländern waren freilich keineswegs ungewöhnlich – Konflikte zwischen England und Frankreich, zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Russland und den deutschsprachigen Ländern dominierten das 18. und 19. Jahrhundert. Als Amerika dann Europa im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu Hilfe eilte und dabei mitwirkte, den alten Kontinent wieder aufzubauen, kamen Dankbarkeitsgefühle auf, doch auch deren Gegenteil. Es gab Angst vor einer politischen und kulturellen Dominanz Amerikas und vor der amerikanischen Massenkultur (vor allem Coca-Cola und später McDonald’s). Dass nach 1945 Europa schwach und Amerika stark war, erzeugte Ressentiments.
    Antiamerikanismus beschränkte sich keineswegs auf nur eine Partei. Er war unter den Nazis so stark wie unter den Kommunisten und war auch in der gesellschaftlichen Mitte weithin akzeptiert. Es gab in Paris schon 1950 große antiamerikanische Demonstrationen zur Zeit des Koreakriegs, und diese Gefühle erreichten ihren Höhepunkt während der Amtszeit von Bush junior. Von Gefühlen kultureller Überlegenheit abgesehen, herrschte die Überzeugung, dass die amerikanische Außenpolitik cowboyhaft und militaristisch sei und die Wahrscheinlichkeit erhöhe, die ganze Welt in einen schrecklichen Konflikt zu ziehen, bei dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden würden. Es verfing auch nicht das Argument, dass die negative Einstellung gegenüber gewissen Aspekten des amerikanischen Lebens ungerechtfertigt sei, wenn alle Welt doch gerade erlebte, was ein wild gewordener Kasinokapitalismus anrichten kann. Während diese Zeilen geschrieben werden, gewähren die 35 führenden Finanzgesellschaften der Wall Street einigen ihrer Manager 144 Milliarden Dollar an Boni. Die meisten dieser Institutionen hatten ihre Anteilseigner gerade geschädigt.
    In vielen Kreisen gewann die Überzeugung an Boden, dass sich nach Bush die europäischen Einstellungen gegenüber Amerika gründlich ändern würden. Als Barack Obama Europa vor seiner Wahl besuchte, kamen die Menschen in Massen zusammen und gaben ihrer großen Begeisterung Ausdruck. Doch, wie einige vorhergesagt hatten, sollten diese Gefühle nicht von Dauer sein. Denn während Bush tatsächlich unbeliebt gewesen war, hatte es auch einen starken Antiamerikanismus unter Clinton gegeben. Bush diente in beträchtlichem Maß als Blitzableiter. Das zugrunde liegende Phänomen ging tiefer und war komplexer. Es würde wohl bestehen bleiben, solange Amerika eine Großmacht war (alle Großmächte der Geschichte sind unbeliebt gewesen), und es war nicht einmal sicher, ob ein schwaches Amerika, das sich aus der Weltpolitik zurückzog, ein Ende des

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