Europa nach dem Fall
rhetorischem Niveau, hat im Lauf der Jahre spürbar abgenommen und wird in Zukunft weiter in dem Maß sinken, in dem Europa weiter wirtschaftlich und anderweitig geschwächt wird. Wenn Frankreich so intensiv versucht, den Kreml davon zu überzeugen, französische Kriegsschiffe und nicht die anderer Nationen zu kaufen, können wir nicht erwarten, dass die französische Regierung gegen russische Menschenrechtsverletzungen protestieren wird. Doch warum nur Frankreich herausgreifen? Das Gleiche gilt für alle europäischen Länder und natürlich für die EU. Das Vereinigte Königreich kann es sich nicht leisten, die Türkei vor den Kopf zu stoßen, wenn es seine Exporte in dieses Land verstärken will, so wie Italien es sich nicht leisten konnte, den Zorn Gaddafis zu erregen, einem der Hauptinvestoren in diesem Land.
Es stimmt, dass es einige wenige lobenswerte Ausnahmen gab. Norwegen, nicht Mitglied der EU, entschied sich, den Friedensnobelpreis einem Dissidenten zu verleihen, genauso wie Schweden selbst während des Kalten Krieges Nobelpreise an Pasternak, Solschenizyn und Sacharow vergab. Norwegen konnte es sich als Öl- und Gasexporteur leisten, chinesische Drohungen zu ignorieren, und Schweden konnte immer argumentieren, dass die Nobel-Stiftung keine Regierungsinstitution sei und der Staat deshalb in die Entscheidungen der Stiftung nicht eingreifen könne.
Wäre es vorzuziehen, wenn die Europäische Union ein Moratorium bei Protesten gegen Menschenrechtsverletzungen erklären würde, solange diese Proteste nicht mehr als reines Gerede sind? Sollte die EU entscheiden, dass es grundsätzlich keine Drohungen, geschweige denn militärische Interventionen mehr geben sollte, selbst bei eklatanten Fällen massiven Völkermords – dass solche Aktionen den Vereinten Nationen überlassen bleiben sollten, selbst wenn klar ist, dass dies nicht mehr als eine bedeutungslose Ausflucht ist? Eine solche Politik hätte den Vorteil der Ehrlichkeit und würde die Heuchelei beenden, wäre jedoch ein schmerzliches Eingeständnis des Versagens. Dagegen ließe sich argumentieren, dass selbst Menschen, die krass gegen humanitäre Normen verstoßen, die Öffentlichkeit scheuen und dass sogar halbherzige Kritiken gelegentlich dazu beitragen, eine Lage etwas zu entschärfen.
Aus dem Dilemma der Europäischen Union gibt es keinen idealen Ausweg. Eine Fortführung der gegenwärtigen Politik der Lippenbekenntnisse wird die europäische Machtlosigkeit mehr als notwendig offenbaren und sie sogar der Lächerlichkeit preisgeben. Europa ist bei vielen Gelegenheiten in der jüngsten Vergangenheit geschnitten und übergangen worden; es ist eine traurige Liste der Erniedrigung, warum sie also verlängern? Doch die EU kann die moralischen Grundwerte, auf denen sie beruht, nicht einfach so aufgeben, außer sie beschließt, zu den Ursprüngen zurückzukehren – zum Kohle- und Stahlverbund. Einzelne europäische Länder laufen Gefahr, an das Grundprinzip der viktorianischen Erziehung gemahnt zu werden, wonach Kinder in Anwesenheit von Erwachsenen schweigen sollten (außer wenn ihre Meinung gefragt wird). Die Frage, wie viel Propagierung von Demokratie und Freiheit sich Europa leisten kann, wird eine der schwierigsten sein, die sich die EU und ihre einzelnen Mitglieder in den kommenden Jahren zu stellen haben, immer unter dem Vorbehalt, dass die Europäische Union noch existiert.
Menschenrechte sind äußerst wichtig, außer sie kollidieren mit strategischen und vor allem geschäftlichen Interessen. Das steht nicht in der Verfassung der EU geschrieben, taucht aber in Brechts berühmter Dreigroschenoper auf. Es ist und bleibt die Richtlinie: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Bettler können, wie Brecht es so platt ausgedrückt hat, keine Moralisten sein.
Gibt es einen europäischen Nationalismus?
Erschüttert von der schmerzhaft langsamen Einigung Europas und schockiert von der Ablehnung der europäischen Verfassung im Jahre 2005, veröffentlichte eine Reihe namhafter europäischer Intellektueller während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts einige Streitschriften. In früheren Zeiten hatten politische Führer (darunter Napoleon und Hitler, als der von ihm ausgelöste Krieg eine für ihn schlechte Wendung zu nehmen begann) Initiativen ergriffen, die vorgaben, eine Einheit Europas herzustellen. In Abwesenheit solcher »Staatsmänner« ergriffen Jürgen Habermas und Jacques Derrida die Initiative mit einem im Mai 2003 veröffentlichten
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