Europa nach dem Fall
»moralische Macht«, »ethische Macht«, »kluge Macht« und »sanfte Macht« wurden eingeführt; bei allen Unterschieden im Detail gab es eine breite Übereinstimmung in einer Reihe von Vorschlägen.
Ein solcher Vorschlag bestand darin, dass Europa schrittweise aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke zu einer Supermacht werden würde und dass seine Hauptaufgabe darin bestehen sollte, für wirtschaftliche Entwicklung überall auf der Welt, für die Stärkung internationalen Rechts, für den Kampf gegen den Klimawandel, für die Verbesserung des Gesundheitswesens und andere für die ganze Menschheit förderliche Dinge zu arbeiten.
In den 1990er-Jahren herrschte die Überzeugung vor, Europa sei bereits eine Supermacht. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es offensichtlich, dass die Welt einen entscheidenden Wendepunkt erreicht hatte – eine Welt ohne Krieg, zumindest ohne größere Konflikte. Demzufolge wurden der neuen Supermacht neue Aufgaben vorgeschlagen. Dazu zählten die Erweiterung der EU, mehr humanitäre Unterstützung bei der Nationenbildung, engere Handelsbeziehungen mit nicht zur EU gehörenden Staaten, mehr Friedenseinsätze, wann und wo notwendig, sowie, allgemein gesprochen, die Propagierung von Demokratie und Menschenrechten nicht durch die Ausübung von Gewalt, sondern mittels einer Vorbildfunktion.
Solche optimistischen Einschätzungen beruhten auf der Annahme, dass die Welt sich in eine erstrebenswerte, menschlichere Richtung bewege; korrupte, autoritäre und intolerante Regierungen verlören an Boden und würden durch demokratische (oder jedenfalls demokratischere) abgelöst. Die neue europäische Supermacht, um es noch einmal zu wiederholen, würde ihr Evangelium verbreiten, indem sie sich als Vorbild hinstellte und der ganzen Welt ihre Vision von Freiheit vorführte.
Der jüngste Ausdruck dieser geistigen Schule, wie sie Tim Parks 2010 präsentierte, war weitaus gedämpfter, wenn nicht gar pessimistisch. Danach würde die Vision, die Europa brauchte, eher darin bestehen, die Welt neu zu modellieren, als dafür zu kämpfen, dass sie so blieb, wie sie ist. »Unsere gegenwärtige Lebensweise ist unhaltbar … unsere gegenwärtige Erstarrung« eine »Schande«. Es gebe keine »gemeinsame Vision«, keinen Mut und keine Begeisterung. »Die Auffassung, dass es im Leben … um die Anhäufung von Gütern und darum geht, ein liebenswerter Partner in einem schlossähnlichen Heim [zu sein], muss verschwinden.« Doch er fragte: »Wie ließe sich so ein Herzenswandel erreichen?« Der Autor gab zu, dass er »keine Idee und wenig Hoffnung« habe. »Offenheit, Großzügigkeit und Toleranz scheinen wesentlich«, schrieb er, und fügte hinzu: »Es wird nicht passieren. Über die Zukunft Europas zu sprechen heißt, eine ernste Depression zu riskieren.«
Richard Youngs, ein anderer Kritiker der Inaktivität der EU bei Missbrauch von Menschenrechten auf der ganzen Welt, forderte, dass Europa sich trotz seines geschwächten Zustands nicht rückgratlos heraushalten dürfte, sondern »strategisch hinsichtlich von Idealen und Werten« werden sollte. Es sollte seine veralteten Denkbahnen verlassen und zu den Kernwerten zurückkehren, darunter die energische Propagierung der Menschenrechte. Der EAD, das neue »Außenministerium« der EU, sollte jedes Jahr Rechenschaft darüber ablegen, auf welche Weise er dazu beigetragen hat, die Menschenrechte in zehn Ländern zu fördern. Zur gleichen Zeit betont der Autor, dass Diskretion und Achtung anderer politischer Werte und Systeme absolut notwendig sind.
Wie hilfreich ist so ein Rat? Kontrollmechanismen zu dem, was auf dem Gebiet der Menschenrechte erreicht worden ist, mögen ganz förderlich sein, doch welche Fortschritte wird der arme EAD vorweisen können, wenn er sich nicht auf eine beträchtlich stärkere Europäische Union stützen kann? (Es hat ohnehin schon in der Vergangenheit solche Evaluationsstudien gegeben – ohne spürbare Wirkung.) Und was ist, wenn die politischen Werte und Systeme der anderen Länder mit denen der EU unvereinbar sind oder ihnen direkt entgegengesetzt?
Es ist betrüblich, dem Weg vom begeisterten Glauben der 1970er- und 1980er-Jahre zur Depression und den Lippenbekenntnissen einer Generation später zu folgen. Es musste so kommen, weil dieser Glaube auf unrealistischen Grundlagen und einer falschen Ansicht der Welt und der Richtung, in die sie sich bewegte, beruhte. Wie war es dazu gekommen?
Eine Reihe von Gründen kommt einem
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