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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Manifest, das den Titel trug: »Der 15. Februar oder Was Europäer zusammenhält: Ein Plädoyer für eine gemeinsame europäische Außenpolitik, die im Herzen Europas beginnt«.
    Warum der 15. Februar? Weil an jenem Tag in vielen europäischen Hauptstädten Massendemonstrationen gegen den Beginn des zweiten Irakkriegs stattgefunden hatten. Dominique Strauss-Kahn schrieb einen Tag später: »Am 15. Februar 2003 wurde eine neue Nation geboren – die europäische Nation.« Wie dem auch sei, diese antiamerikanische Äußerung hielt Strauss-Kahn in späteren Jahren nicht davon ab, als Direktor des Internationalen Währungsfonds in Washington D.C. eng und freundschaftlich mit den amerikanischen Behörden zusammenzuarbeiten.
    Eine solche Betonung der welthistorischen Bedeutung des 15. Februar 2003 mag nicht sehr weise gewesen sein, selbst abgesehen davon, dass sie falsch war. Selbst wenn der Krieg im Irak auf falschen Voraussetzungen beruhte und zeigte, dass es zwischen Washington und einem Großteil Europas grundlegende Meinungsverschiedenheiten gab, war es kein idealer Ausgangspunkt. Wenn dieser Krieg effizient und mit überwältigender Macht durchgeführt worden wäre, wenn er mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein und mit dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak binnen sehr kurzer Zeit geendet hätte, hätte die Habermas-Derrida-Initiative als Aufruf zur Wegbereitung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik ziemlich wenig überzeugend ausgesehen. Ihre Suche nach einer »europäischen Identität« war ebenso legitim wie die These, dass die Werte und Interessen der Vereinigten Staaten nicht notwendigerweise die Europas seien und dass keine westliche Solidarität dies übersehen könne.
    Habermas, der darauf beharrte, dass das neue Projekt von den Kernmächten Europas, Frankreich und Deutschland, angeführt werden sollte, übersah geflissentlich, dass zwischen diesen beiden keineswegs Einstimmigkeit herrschte und sogar noch weniger zwischen ihnen und den anderen EU-Mitgliedern, die schließlich nicht übergangen werden konnten. Habermas, Europas angesehenster Intellektueller und die treibende Kraft hinter dem Dokument, gestand ein, dass sein Projekt ein Konstrukt war, dass sein letztliches Ziel nicht darin bestand, einen weiteren Nationalismus zu schaffen, sondern einen kantischen ewigen Weltfrieden herbeizuführen. Das beruhte auf einer Anzahl zweifelhafter Annahmen – dass eine Weltmacht dadurch entstehen könne, dass sie sich ausschließlich auf sanfte Macht verließ und a priori Gewalt ablehnte, dass ein Gefühl des europäischen Nationalismus (oder Patriotismus) bereits auf dem ganzen Kontinent existiere und stark genug sei, um als Grundlage für die Entstehung einer Großmacht zu dienen. Wäre es nicht notwendig, England und fast ganz Osteuropa von diesem Gebilde auszuschließen, und würde nicht die Einbeziehung eines Landes wie der Türkei überhaupt undenkbar sein? Sollte Ungarn dazugehören?
    Eine Anzahl führender europäischer Intellektueller griff in die Debatte ein. Die meisten von ihnen argumentierten, dass die Suche nach einer europäischen Identität zwar lobenswert sei, dass aber die Selbstbestimmung Europas als un- oder sogar antiamerikanisch unter einem schlechten Stern stehe; dies würde Europa nicht einen, sondern spalten. Umberto Eco hingegen fügte einen weiteren Grund für einen Schritt zu engerer Einheit hinzu: Amerikanische Interessen richteten sich mehr und mehr auf andere Weltgegenden – Europa müsse sich einigen oder seine Bedeutung verlieren.
    Und doch spiegelte die Habermas-Derrida-Erklärung eine starke geistige und emotionale Strömung in Europa wider. Selbst diejenigen, die zumindest in gewisser Hinsicht an die westliche Solidarität glaubten, hatten das Gefühl, sie sollte nicht zu weit getrieben werden. Amerika war eine Supermacht und seine politischen Ambitionen entsprachen nicht notwendigerweise denen Europas, dessen globale Interessen ziemlich begrenzt waren. Das war Jahre vorher schon vom französischen Außenminister Hubert Védrine ausdrücklich festgestellt und nun wieder aufgenommen worden. Viele, wahrscheinlich die meisten Europäer waren nicht davon überzeugt, dass ihre Interessen im Irak und am Hindukusch verteidigt werden sollten. Europa hatte kein Verlangen, eine globale militärische Rolle zur Verteidigung einer Weltordnung zu spielen. Europa war mit sich selbst und mit der Verteidigung der Menschenrechte beschäftigt, wie es einer zivilen

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