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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Supermacht anstand.
    Die NATO mag zur Zeit der sowjetischen Aggression in den 1940er- und 1950er-Jahren eine Lebensnotwendigkeit gewesen sein, doch der Kalte Krieg war vorbei und es gab keine unmittelbare sowjetische Bedrohung mehr. Die globale Konstellation, die zur Bildung der NATO und damit ganz allgemein zu einer engen Allianz mit Amerika geführt hatte, hatte sich gewandelt, und was vor 30 Jahren offensichtlich war – der amerikanischen Führung zu folgen –, traf nicht länger zu.
    Die Habermas-Derrida-Erklärung hatte keine politischen Folgen. Der ihr zugrunde liegende Gedanke einer europäischen Außenpolitik hätte jedoch umgesetzt werden sollen, weil es sehr große Sympathien dafür gab. Warum blieb sie ein toter Buchstabe? Weil die Unterschiede zwischen den zahlreichen »Bestandteilen« der EU zu groß waren, weil das Habermas-Derrida-Projekt eine grundlegende Neuorientierung und Transformation bedingt hätte und es anscheinend instinktive Vorbehalte gegen größere Reformen gegeben hatte. Eine europäische Außenpolitik hätte bedeutet, die Souveränität und die Handlungsfreiheit einzelner Länder einzuschränken.
    Stattdessen zogen es die einzelnen Staaten Europas vor, ihre eigene Außenpolitik weiterzuführen, insbesondere was die Türkei und Russland betraf. England trat stark für den Beitritt der Türkei zur EU ein. Einige seiner Berater argumentierten, die Türkei habe enorme wirtschaftliche Fortschritte gemacht und würde wahrscheinlich noch mehr machen, sie sei sowohl eine europäische als auch eine regionale Macht geworden und habe sich unter der Führung der AKP eindeutig prowestlich entwickelt. Andere Länder, besonders diejenigen mit einer starken türkischen Gemeinschaft, waren weit weniger begeistert und behaupteten, dass das Land unter der AKP-Führung im Gegenteil stärker antiwestlich (und antidemokratisch) geworden sei, dass es weder eine europäische noch eine regionale Macht sei und seine Verbindungen zum Iran und radikalen arabischen Ländern verstärkt habe. Es hätte sogar Omar al-Baschir empfangen, den sudanesischen Staatsmann, der auf der Fahndungsliste von Interpol stand. Diese Debatten werden wahrscheinlich noch lange Zeit anhalten.
    Was Russland anging, so war Europa mit einem größeren Handicap behaftet. Moskau verhandelte lieber mit den einzelnen europäischen Ländern als mit der EU als ganzer. Das aber hieß, dass die Russen wie die Chinesen und andere versuchen würden, ein Land gegen das andere auszuspielen, um günstigere Bedingungen zu erhalten. Europa begriff, dass es im Prinzip in seinem ureigenen Interesse war, wenn es seine Politik gegenüber dem östlichen Nachbarn koordinierte. Doch kommerzielle Rivalitäten verhinderten häufig eine solche Koordination.
    Ein weiteres Handicap Europas ist seine Abhängigkeit von Ölimporten (82 Prozent Gesamtanteil) und Gasimporten (57 Prozent) aus Russland. Es sind seit 2005 Verfahren erwogen worden, diese Abhängigkeit zu verringern, doch bislang ohne großen Erfolg. Diese Abhängigkeit wird im Fall eines Kriegs im Nahen Osten wahrscheinlich noch wachsen. Es ist argumentiert worden, dass Russland gleichfalls von seinen europäischen Konsumenten abhängig sei, da Öl und Gas bei Weitem seine wichtigsten Exporte darstellen. Doch das trifft nicht mehr im selben Maß zu, da China einen enormen Energiebedarf hat und direkte Pipelines von den sibirischen Ölfeldern in den Osten gebaut werden.
    Die russischen Beziehungen zum Vereinigten Königreich bleiben frostig, weil London nicht bereit ist, die Akten zu Aktivitäten des FSB (dem Nachfolger des KGB) im Königreich zu schließen, wobei der Mord an Alexander Litwinenko, einem russischen Überläufer, der für den KGB gearbeitet hatte, der spektakulärste Fall war. Russland weigerte sich, Andrej Lugowoi auszuliefern, der des Mordes verdächtigt wurde und Mitglied des russischen Parlaments geworden war. Putin schien darüber verärgert gewesen zu sein, dass um einen »so geringfügigen« Fall so viel Aufhebens gemacht wurde.

Russland und Europa: Partner und Rivalen
    Russland nahm während der frühen Jahre des neuen Jahrhunderts einen großen Raum im europäischen Denken ein. War es Freund oder Feind oder etwas dazwischen? Gehörte es zu Europa oder zu Asien? Für Europa war dies eine entscheidende Frage auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Deutschland brauchte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg nur 15 Jahre, um als maßgebender Mitwirkender auf die internationale

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