Europa nach dem Fall
Bühne zurückzukehren. Russland brauchte nach dem Zerfall der Sowjetunion noch weniger Zeit, und es stellte sich die Frage, in welche Richtung das Land steuerte? Wie wird es in zehn oder 20 Jahren aussehen?
Die Spekulation über die Zukunft von Nationen hängt sowohl von ziemlichen Gewissheiten als auch von Imponderabilien ab, die sich einer Vorhersage entziehen. Russlands demografische Probleme gehören zu den ziemlichen Gewissheiten. Mehr als 20 000 Dörfer und Kleinstädte sind verschwunden. Dies ließe sich teilweise mit dem allgemeinen weltweit zu beobachtenden Prozess der Urbanisierung erklären. Doch die russische Geburtenrate ist sehr niedrig, auch wenn sie vor Kurzem etwas angestiegen ist. Russische Männer leben nun ein wenig länger als vor zehn oder 20 Jahren, doch das bedeutet bloß, dass Russland schneller ergraut. Die Einwanderung von zentralasiatischen und chinesischen Arbeitern nach Russland setzt sich fort. Eine radikale Umkehrung dieser Trends erscheint höchst unwahrscheinlich. Das bedeutet, dass es in Zukunft weniger ethnische Russen geben wird. Im Großraum Moskau wohnen nun mehr Muslime (1,5 Millionen nach einigen Schätzungen) als in jeder anderen europäischen Stadt. Und – wird Russland den Fernen Osten und alle Gebiete jenseits des Urals behalten können?
Was die Imponderabilien angeht, so erscheint es ziemlich wahrscheinlich, dass das sowjetische System, hätte es Michail Gorbatschow nicht gegeben, noch ein oder zwei Jahrzehnte hätte durchhalten können, obwohl es bereits dem Untergang geweiht war. Von 1972 bis 2008 kletterte der Rohölpreis von gut zwei Dollar auf 150 Dollar pro Barrel (während diese Zeilen geschrieben wurden, betrug er 102,77 Dollar). Mit anderen Worten, Russland könnte immer noch die Sowjetunion sein, und die enorme Gewinnzunahme würde nicht der weisen Staatskunst Putins zugeschrieben werden, sondern dem Leninismus und der weitsichtigen Staatsführung der Nachfolger von Jurij Andropow. In entscheidendem Maß werden Russlands Aussichten weiterhin auf dem Export von Gas und Öl beruhen.
Wenn die niederschmetternden Vorhersagen zur globalen Erwärmung sich bewahrheiten, könnte Russland bald Zugang zu beträchtlichen Mengen seltener und wichtiger Rohstoffe bekommen, die derzeit im Permafrost eingeschlossen sind, obgleich zur Förderung Hilfe von außen nötig sein könnte. Selbst wenn die Pläne zur wirtschaftlichen Modernisierung fehlschlagen, steht Russland vermutlich nicht vor einem dramatischen wirtschaftlichen Einbruch und einer damit einhergehenden politischen Krise. Doch die Erwartungen in Russland haben in den letzten Jahren die wahrscheinlichen Möglichkeiten ihrer Erfüllung übertroffen.
Die Russen haben seit jeher einen starken Glauben an ein offensichtliches Schicksal: die Vorstellung von Moskau als dem dritten Rom, von der Weltrevolution, vom Aufbau des Sozialismus in einem Land und so weiter. Zu den derzeit kursierenden intellektuell-politischen Moden gehören die sogenannte russische Idee und der Neo-Eurasianismus, beide nicht besonders freundlich gegenüber Europa und dem Westen. Demokratie wird nicht besonders geschätzt, eine Empfindung, die größtenteils darauf zurückzuführen ist, dass unter Jelzins Herrschaft (aber auch in den Jahren danach) Leute in Positionen gehievt wurden, die diese dazu ausgenützt haben, große Reichtümer anzusammeln. Nicht alle Vorhersagen Oswald Spenglers waren falsch. In einem 1933 veröffentlichten Buch schrieb er Folgendes: Würde das kommunistische Regime zusammenbrechen, würden die führenden Vertreter zu Aktionären werden. So wurde Ende der 1990er-Jahre Demokratie zum Synonym für Kleptokratie und Oligarchie. Jahrhundertelang hatte Russland einen schrecklichen Ruf, was die Korruption anging. Als der Zar im 19. Jahrhundert von einem Verwandten gefragt wurde, was in seiner Heimat nach langer Abwesenheit neu wäre, antwortete er: »Nitschewo, kradut« (»Nichts, die Leute stehlen«). Doch die Praktiken der 1990er-Jahre unterschieden sich von der gängigen »normalen« Korruption; wenige Menschen in strategischen Positionen ergatterten in sehr kurzer Zeit enorme Reichtümer.
Die neue russische Selbstsicherheit, ausgelöst durch den Ölpreisanstieg, erreichte ihren Höhepunkt 2006 und 2007 in einer Reihe von Reden des damaligen Präsidenten Putin. Er nannte seine Gegner »vom Westen finanzierte Schakale«, die sich ein schwaches und chaotisches Russland wünschten, ganz wie ihre Sponsoren. In einer Rede in
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