Europa nach dem Fall
in den Sinn. Es war ein Fehler, in den 1970er-Jahren und sogar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu glauben, dass die Welt relativ frei von Konflikten sein würde. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs abgenommen hatte (doch selbst dies konnte in einem Zeitalter der Proliferation nicht als gesichert gelten), so hatte der Kalte Krieg mit all seinen Bedrohungen doch ein gewisses Maß an Kontrolle aufseiten der Supermächte mit sich gebracht, besonders was die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion betraf. Mit dem Ende des Kalten Krieges fielen diese Bremsen weg. Genauso wenig wurde in Erwägung gezogen, dass China durch seinen wirtschaftlichen Aufschwung stärkere politische Ansprüche stellen würde und dass anscheinend wirtschaftliche Konflikte auf politisches Gebiet durchschlagen könnten, etwa wenn es um den Zugang zu Öl und anderen Rohstoffen ging. Und es wurde auch nicht vorhergesehen, dass neue aggressive Kräfte wie der Dschihadismus auf der Weltbühne auftauchten. Schließlich herrschte der falsche Glaube, dass westliche (europäische) Werte universell bejubelt und übernommen werden würden. Die Menschenrechtslage in China und Russland hatte sich sicherlich seit den Tagen Maos und Stalins verbessert und könnte sich in der Zukunft noch weiter bessern. Doch aktuell hielten weder die Machthaber dieser Länder noch die jeweilige öffentliche Meinung die Demokratie und den Liberalismus europäischen Zuschnitts für eine Art des politischen Lebens, die zu ihnen passte. Die Tatsache, dass Europa mit diesem System nicht besonders gut gefahren war, bestärkte sie nur in ihrer Abneigung. Sie sahen in Europa eine starke Wirtschaft – zumindest bis zur jüngsten Krise –, aber auch Schwäche, fehlende Zielsetzung und fehlende Einheit in den meisten anderen Belangen, und sie betrachteten Europa als einen Kontinent, der durch die häufige Anrufung von Demokratie und Menschenrechten von seiner Schwäche ablenkte.
Sanfte Macht ist wichtig und ist von Großmächten, nicht zuletzt den Vereinigten Staaten, oft vernachlässigt worden. Doch sanfte Macht hat ihre offensichtlichen Grenzen. In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte Albanien den bei Weitem stärksten Radiosender im östlichen Mittelmeerraum, doch das half dem Land überhaupt nicht. (Die Tatsache, dass Albanien als politisches oder wirtschaftliches Vorbild nicht unbedingt das attraktivste System war, spielte sicherlich eine Rolle.) Ein Beispiel für die erfolgreiche Anwendung sanfter Macht war die Kampagne während der letzten Phase des Kalten Krieges, die dazu führte, dass viele Zehntausende russischer Juden die Erlaubnis erhielten, unter dem Vorwand der Familienzusammenführung zu emigrieren. In diesem Fall spielte zweifellos der Wunsch der sowjetischen Behörden, viele von ihnen loszuwerden, eine entscheidende Rolle. Es wäre schwierig, an einen Fall zu denken, bei dem sanfte Macht erfolgreich war, wenn es um die Kerninteressen eines Landes ging.
Angesichts dieser gewaltigen Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität, zwischen dem, wie Europa sich selbst sah und wie andere es sahen, was könnte Europa da tun, um seine Ideen und Interessen zu propagieren? Es gehört schließlich zum Wesen einer Macht, vor allem einer Supermacht, Einfluss zu haben und die Fähigkeit, diesen auf der internationalen Bühne wirkungsvoll einzusetzen. Dass »Macht« kein Synonym für »militärische Macht« ist, versteht sich von selbst, doch es war ein noch größerer Irrtum, anzunehmen, dass es angesichts der Realität der Welt von heute Macht ohne militärische Stärke geben könne. Ein solcher Irrglaube würde Europa zwangsläufig auf den Weg in die Bedeutungslosigkeit führen.
Wie reagierten europäische Politstrategen und wesentliche Kreise der politischen Klasse auf eine solche irrige Einschätzung der politischen Lage, die teils auf Wunschdenken und teils auf Unwissenheit über die Welt außerhalb Europas beruhte? Das ist eine weitere faszinierende Frage, die nach ausführlicher und leidenschaftsloser Untersuchung verlangt. In unserer Zeit wurde von einigen Politikwissenschaftlern eine Vielzahl sonderbarer Theorien über das Wesen der Macht entwickelt, aber es ist zu bezweifeln, ob die politische Führung sich von akademischen Theorien beeinflussen ließ oder sie überhaupt wahrnahm – sie kam unabhängig und instinktiv zu ihren fälschlichen Schlussfolgerungen.
Die EU ist aufgrund ihrer Charta (Artikel 6 und 11) und zahlloser Resolutionen streng dazu
Weitere Kostenlose Bücher