Europa nach dem Fall
Teheran war ein traditioneller Rivale. Es muss den türkischen Politstrategen aufgegangen sein, dass es beileibe nicht im Interesse der Türkei liegen könne, wenn der Iran im Besitz von Nuklearwaffen war und die Türkei nicht. Andererseits bestand offenbar noch das jahrhundertealte Gefühl, dass die ungläubigen Europäer nie ihre wahren Freunde und Verbündeten sein könnten und dass die Türkei zu Asien, nicht zu Europa gehörte. Aus diesem Grund schien Ankara bereit zu sein, alles, was die Russen als vermeintliche Rivalen des Westens den Tschetschenen antaten, zu verzeihen oder zumindest ein Auge dabei zuzudrücken, während es nicht bereit war, die amerikanische und europäische Hilfe für die Muslime im ehemaligen Jugoslawien anzuerkennen.
Der türkische Islamismus ist ein weichgespülter Islamismus im Vergleich mit dem Iran und den arabischen Dschihadisten, und die türkischen Politstrategen merkten, dass es nicht in ihrem Interesse war, alle Brücken abzubrechen, dass auch sie leiden müssten, wenn die Beziehungen mit dem Westen sich zu sehr verschlechterten. Selbst im Niedergang war die EU immer noch ein wichtiger Handelspartner, und die Türkei könnte in einer zahnlosen NATO besser wegkommen als außerhalb von ihr. Wenn Ankara den Großmachtstatus anstrebte (und nicht nur den einer Regionalmacht), sollte es sich nicht zu sehr von dem Konzept zurückziehen, dass die Türkei als Brücke fungieren könnte, als Vermittler zwischen Europa und der feindlichen muslimischen Welt. Auch konnte die Erinnerung an den arabischen Dolchstoß von 1918 nicht leicht vergessen werden.
Erklärungen von türkischen Wortführern waren ziemlich verwirrend. Recep Erdogan, der türkische Ministerpräsident, behauptete im Januar 2011 in einem eindeutig proeuropäischen Newsweek -Artikel, dass die Türkei die Tatkraft besäße, die Europa so dringend brauchte. Wenn ja, wie erklärten sich dann die türkischen Beschwerden über die von Griechenland an einem kleinen Abschnitt der griechisch-türkischen Grenze errichtete Mauer, die illegale Einwanderer fernhalten sollte? Das wurde als weiteres fatales Hindernis für engere türkisch-europäische Beziehungen betrachtet. Eine tatkräftige Türkei hätte ein solches »Einsickern« sicherlich verhindern oder die ins schlappe Europa Einwandernden aufnehmen können. Im Gegensatz dazu öffnete die Türkei ihre Grenzen den meisten Ländern des Nahen Ostens und erleichterte so die »Einsickerung« nach Griechenland und in andere europäische Staaten.
Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU werden für Europa ein wichtiger Punkt bleiben, unabhängig davon, ob die Türkei zur Europäischen Union gehören wird oder nicht. Die Türkei hat einflussreiche Freunde in Europa. Die Außenminister von Großbritannien, Italien, Schweden und Finnland veröffentlichten im Dezember 2010 einen offenen Brief an ihre Kollegen. Unter dem Titel »Europa, schau wieder nach außen« fassen sie ihre Argumente zusammen. Danach ist der Auftrag der EU, dem Kontinent Stabilität, Demokratie und Wohlstand zu bringen, noch nicht abgeschlossen. Mehr Dynamik muss her, und zu diesem Zweck schlagen sie vor, Island und die Türkei in die EU mit hineinzunehmen. Es versteht sich, dass ihr Interesse sich mehr auf die Türkei als auf den anderen Kandidaten richtet. Sie erwähnen zuerst die Bedeutung des freien Flusses von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Arbeit und dann die Wichtigkeit, Rechtssicherheit sowie gemeinsame europäische Werte und Maßstäbe zu stärken.
Dies, so die Verfasser des Briefes, ist nicht zuletzt in der Türkei offensichtlich, wo EU-inspirierte liberale Reformen so erfolgreich waren, und das in einem Land, das sich noch mitten in einem weitreichenden Reformprozess befindet. Des Weiteren könnte die Türkei wie kein anderes Land das europäische Interesse an Sicherheit, Handel und Energienetzwerken vom Fernen Osten bis zum Mittelmeerraum voranbringen (die Türkei ist in letzter Zeit sogar in der Mongolei aktiv gewesen – bislang ohne durchschlagenden Erfolg). Mit anderen Worten, wenn die Türkei der EU beiträte, könnte Europa eine viel größere Rolle in der Welt spielen. Die Autoren räumen freilich ein, dass an den Argumenten derjenigen, die behaupten, die Türkei erfülle noch immer nicht die »Kopenhagen-Kriterien«, etwas dran sei. Diese Richtlinien, 1993 vom Europäischen Rat festgelegt, definieren, welche Staaten für einen Beitritt zur Europäischen Union infrage kommen. Sie
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