Europa nach dem Fall
zentralasiatischen Republiken ist nicht gestoppt worden und wird in einigen Fällen sogar gefördert.
Die russischen Behörden scheinen sich von den muslimischen Gemeinschaften nicht bedroht zu fühlen, sei es in der mittleren Wolgaregion in Städten wie Kazan oder in Großstädten wie Moskau. Doch es ist in den letzten Jahren in Moskau zu Zusammenstößen mit ethnischem Hintergrund gekommen. Es scheint eine Menge Zündstoff zu geben, und eine weitere Ausbreitung von Unruhen ist immer möglich. Unter Berücksichtigung der höheren Geburtenrate der muslimischen Gemeinschaften könnte sich die Lage in nächster Zeit verschlechtern. In ein oder zwei Jahrzehnten wird jeder dritte Rekrut der russischen Streitkräfte muslimischer Herkunft sein, und der russische Anteil mag auf weniger als die Hälfte zurückgegangen sein. Vielleicht wird Russland bis dahin die Notwendigkeit einer Berufsarmee akzeptiert haben. Doch das wird nicht die einzige größere Schwierigkeit auf Russlands weiterem Weg sein.
Im Nordkaukasus besteht die dritte und gefährlichste Konzen tration von Muslimen. Etwa 160 000 Soldaten und Zivilisten sind in den beiden Tschetschenienkriegen gestorben. Schließlich gelang es Moskau, eine Lösung durchzudrücken, die für relative Ruhe sorgte. Tschetschenien ist eine teilweise autonome muslimische Region geworden, in der die Scharia zum Landesrecht wurde. Die Forderung nach Polygamie wird nun erwogen. Die Lage in Dagestan, Kabardino-Balkarien und Inguschetien bleibt weitaus krisenanfälliger.
Es ist nicht klar, in welchem Maß die tschetschenische Regierung wirklich an einen fundamentalistischen Islam glaubt. Es könnte gut sein, dass sie das Bedürfnis nach einer offiziellen Ideologie verspürt, die als einigende Kraft dienen und den Anschuldigungen der Rebellen, dass die Muslime in der herrschenden, Putin ergebenen Clique Abtrünnige seien, den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Obwohl nun in Tschetschenien in großem Ausmaß nach der Scharia gelebt wird, wie sie Präsident Ramsan Kadyrow auslegt (Frauen sind beispielsweise gezwungen, Kopftücher zu tragen), ist die Opposition gegen ihn nicht kleiner geworden. Die russische Politik, mehr oder weniger vertrauenswürdige Satrapen wie den jüngeren Kadyrow einzusetzen, bietet keine Garantie für die Zukunft. Sie muss sich darüber im Klaren sein, dass diese nach immer mehr Unabhängigkeit und politischen Zugeständnissen (und Geld) streben werden und ihnen in letzter Hinsicht nicht zu trauen ist.
Zu Stalins Zeiten wäre das Problem durch die Umsiedlung der rebellischen Minderheiten in entlegene Gebiete Russlands gelöst worden, aber das ist nicht mehr machbar. Da es aus russischer Sicht ganz undenkbar ist, dass sich der Nordkaukasus abspaltet, wird dieses Gebiet Russlands Achillesferse bleiben. Selbst wenn sich die terroristische Bedrohung eindämmen lässt, wird sich eine nationalistisch-religiöse Opposition wahrscheinlich halten. Im Kaukasus gehört es schon zur Tradition, sich auf lange Kriege einzulassen. Wenn es keinen äußeren Feind gibt, scheinen die Kaukasier es zu genießen, einander zu bekriegen. Es gibt etwa 40 Nationalitäten und 30 Sprachen allein in Dagestan, was größtenteils auch die Situation in anderen Teilen der Region widerspiegelt. Während der Sowjetzeit wurden die Konflikte unterdrückt, doch die derzeitige Politik des divide et impera wird wahrscheinlich nicht zu einer dauerhaften Lösung führen. Die Islamisten glauben, sie müssten nur die Russen in einem langwierigen Kampf besiegen und die russischen Bürger aus dem Kaukasus vertreiben und könnten dann der Region eine Pax Islamica aufzwingen.
Der politische Islam wird in den kommenden Jahren jedenfalls auf der innen- und außenpolitischen Tagesordnung Russlands weit oben stehen. Dafür spricht schon, dass die islamistischen Rebellen nicht das einzige Problem in dieser Region sind, vor dem Russland steht, und dass nach dem NATO-Abzug aus Afghanistan ein Aufflammen von Unruhen in den zentralasiatischen Republiken in Zukunft mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Aufgrund seiner eigenen üblen Erfahrungen in Afghanistan hat Russland nicht den Wunsch, wieder in den zentralasiatischen Unruheherd gezogen zu werden, doch gleichzeitig hat es keinerlei Verlangen, seine »Zone privilegierten Interesses« aufzugeben. Die Ansichten russischer Experten gehen weit auseinander, reichen von einer Einschätzung des Nordkaukasus als einem hoffnungslosen Fall bis hin zu optimistischeren
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