Europa nach dem Fall
Demokratisierung fand im Lauf der Zeit statt, doch die politische Einstellung der neuen Führungsschicht und ihrer Unterstützer war gar nicht demokratisch, vor allem hinsichtlich der Minderheiten im Land. Es stimmt, dass die AKP, die Regierungspartei, demokratisch gewählt war, aber das galt 2010 auch für Ungarn, das in Rekordzeit weitgehende antidemokratische Repressionen durchpaukte. Es ließen sich auch noch ähnliche Vorkommnisse in Mitteleuropa vor dem Zweiten Weltkrieg anführen.
Washington war ursprünglich unter den eifrigsten Verfechtern einer EU-Mitgliedschaft der Türkei gewesen. Doch diese Sympathie wurde nicht erwidert. Meinungsumfragen zeigten, dass die türkische Öffentlichkeit sich immer mehr gegen Amerika und seine Verbündeten stellte. Als das Land wirtschaftlich stärker wurde und mehr seiner Exporte in den Osten und Norden gingen, kam das Gefühl auf, dass eine zu enge Beziehung zum Westen nicht im Interesse der Türkei sei. Engere Beziehungen wurden mit den arabischen Nachbarländern wie auch mit dem Iran und mit Russland geknüpft.
Washington bemühte sich angestrengt, Ankara zu umwerben. Einer der ersten Auslandsbesuche von Präsident Obama galt im April 2009 der türkischen Hauptstadt, wo er eine überaus lobende Rede hielt. Doch das half nichts. Die türkische Unterstützung für den EU-Beitritt betrug 2002 73 Prozent. Sechs Jahre später war sie auf 38 Prozent gefallen. Die Stimmung war umgeschwenkt. Die Zusammensetzung der politischen Elite hatte sich geändert, und die antiwestliche Haltung zeigte sich nicht nur in strategischen Abhandlungen von führenden türkischen Politikern wie dem Neo-Osmanismus und der »strategischen Tiefendoktrin« des Außenministers Ahmet Davuto ğ lu, die die türkische Außenpolitik im letzten Jahrzehnt beherrscht haben, sondern auch in den Medien. Es hieß, die Türkei gehöre zu etwa zehn verschiedenen Regionen, angefangen vom Mittelmeerraum bis hin zu Zentralasien, und solle in jeder davon aktiv sein.
Der neue türkische Großmachtstatus und der Hass gegen diejenigen, die dem Land im Weg standen, zeigten sich sogar noch stärker in der türkischen Populärkultur, insbesondere im türkischen Pop und in äußerst erfolgreichen Filmen und Fernsehserien wie Metallsturm (Metal Firtina) und Tal der Wölfe (Kurtlar Vadisi Irak) . In Metallsturm zerschlägt Washington die Türkei in eine Anzahl von Kleinstaaten, wie es die Verbündeten im Friedensvertrag von Sèvres nach dem Ersten Weltkrieg taten, und die Türkei, vereint mit China, Russland und Deutschland, wirft eine Atombombe auf Washington ab. In Tal der Wölfe , das auch mit großer Zustimmung in den türkischen Gemeinschaften in Europa gezeigt wurde, begehen amerikanische Soldaten unaussprechliche Brutalitäten gegen Muslime. Ein jüdischer Arzt reißt den Muslimen die Herzen heraus und verkauft sie an Aristokraten in New York, London und Tel Aviv. Die amerikanische Wirtschaftshilfe an die Türkei unter der Truman-Doktrin wird lächerlich gemacht und die Frage gestellt: »Wir haben euch die Gummibänder für eure Unterhosen geschickt – was habt ihr für uns getan?« Es gab eine Fortsetzung von Tal der Wölfe: Kurtlar Vadisi Filistin, Thema ist das türkische Schiff, das 2010 versucht hatte, die Gaza-Blockade zu durchbrechen. Der bisherige Höhepunkt osmanischer Begeisterung (und des osmanischen Chauvinismus) wurde mit Fetih 1453 ( Die Eroberung von 1453; gemeint ist die Eroberung Konstantinopels) erreicht, dem teuersten und erfolgreichsten türkischen Film aller Zeiten, der überall in der türkischen Diaspora gezeigt wurde.
Türkische Staatsmänner fühlten sich häufig vom Westen beleidigt. Manchmal war das gerechtfertigt, wie etwa das folgende Beispiel des dümmlichen Verhaltens Israels zeigt. Ein türkischer Diplomat musste bei einem Gespräch mit dem stellvertretenden israelischen Außenminister auf einem niedrigeren Sitz Platz nehmen, sodass der Israeli auf den Diplomaten herabblicken konnte. Israel weigerte sich auch, im Fall der Affäre Mavi Marmara, des Blockadebrechers, der auf dem Weg nach Gaza gewesen war, Entschädigung zu leisten, mochte die Provokation auch noch so groß gewesen sein.
Dieser Umschwung im Verhalten der Türkei überraschte viele ausländische Beobachter. Es schien keinen besonderen Grund für die neue Freundschaft mit arabischen Staaten oder mit dem Iran zu geben. Die Araber waren osmanische Untertanen gewesen und hatten damals nicht viel Loyalität gezeigt, und
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