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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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beziehen sich insbesondere auf die Stabilität von Institutionen, welche die Demokratie, Rechtssicherheit, Menschenrechte und die Achtung und den Schutz von Minderheiten garantieren. Doch was auch immer in Kopenhagen entschieden wurde, die europäischen Außenminister glaubten jedenfalls mit einer etwas großzügigeren Auffassung, dass eine »Nichtaufnahme der Türkei bedeuten würde, dass Europa den fundamentalen Werten und Grundsätzen den Rücken kehrt, welche die europäische Politik in den letzten 50 Jahren geleitet haben.« Es gab offensichtlich einen Grundsatzstreit, aber sie vertrauten darauf, dass »die gestalterische Umwandlungskraft der Erweiterung« die Türkei zu weiterer Demokratisierung und Achtung der Menschenrechte führen würde.
    Dieser Aufruf und die angeführten Argumente sind von beträchtlichem Interesse. Die Außenminister repräsentieren Staaten, die keine größeren Gemeinschaften mit türkischen Migranten und daher keine Erfahrungen mit Integrationsschwierigkeiten haben. Angesichts der wirtschaftlichen Lage in England und Italien, aber auch des finnischen Klimas scheint es unwahrscheinlich, dass es eine massive türkische Einwanderung in diese Länder geben wird. Die Verfasser sind offensichtlich nicht beeindruckt von den Erklärungen Gaddafis und anderer arabischer Wortführer, dass die Türkei als fünfte Kolonne des Islam in Europa agieren würde, oder von den Wikileaks-Enthüllungen, denen zufolge mehrere ehemalige amerikanische Botschafter in der Türkei den türkischen Außenminister Davuto ğ lu als sehr gefährlichen Menschen betrachteten, der dafür verantwortlich war, dass sein Land in eine gefährliche antiwestliche Richtung steuerte. Sie waren auch nicht über die Erklärungen des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland besorgt (die hierzulande viel Unmut erregten), als er die türkischen Gemeinschaften ermahnte, sich nicht zu assimilieren. Er verlangte außerdem die Einrichtung türkischer Schulen und Universitäten in Deutschland.
    Erdogan ist als sprunghafter Mensch bekannt, und nicht jedes seiner Worte sollte ernst genommen werden. Gül, der türkische Präsident, gab den türkischen Gemeinschaften in Deutschland bei anderer Gelegenheit den gegenteiligen Rat, und zwar sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Was die negative Einschätzung von amerikanischen Botschaftern betrifft, so hatten sie wahrscheinlich die türkische Politik nicht richtig interpretiert oder die Tatsache übersehen, dass die Türkei sich seit geraumer Zeit vom prowestlichen Kemalismus abgewandt hat und dass der Islamismus große Durchbrüche erzielt hat. Ungeachtet dessen, was die Diplomaten berichteten, bestand die offizielle Linie Washingtons und Europas darin, dass die Türkei demokratischer geworden war, was die Wahrheit leicht überstrapazierte.
    Davuto ğ lu stand für die Veränderungen, die in der Türkei vor sich gegangen waren. Die AKP, die Regierungspartei, wurde bei den größtenteils fairen Wahlen von einer Mehrheit wiedergewählt, doch die Mehrheit mochte die demokratischen Werte größtenteils nicht und betrachtete sie als westlich und nicht islamisch inspiriert. Eine Annäherung an den Iran, an Russland und die arabische Welt war in der Türkei beliebt, wohingegen es westliche Werte und die EU nicht waren. Die Fürsprecher der Türkei in Europa argumentierten, dass Istanbul zur lebendigsten Stadt in Europa geworden sei, dass die AKP eine liberalisierende und demokratische Partei sei. Die türkischen Pressegesetze waren etwa so demokratisch wie die ungarischen, und die AKP war eine so demokratisch gewählte Partei wie Putins Partei in Russland. Doch wenn Ungarn Mitglied der EU war und wenn es eine strategische Partnerschaft mit Russland gab, warum sollte die Türkei nicht ebenso behandelt werden?
    Es stimmt, dass die öffentlichen Meinungsumfragen zeigten, dass die Türken die Vereinigten Staaten und Israel als die größten Gefahren für die Türkei sahen. Nur 2 Prozent dachten das vom Iran. Bei alldem bestehen kaum Zweifel, dass die türkische Regierung die Abneigung gegen die EU und »europäische Werte« überwinden könnte. Die türkische Außenpolitik sieht »null Probleme mit Nachbarn« (außer sehr wenigen) und die Ausbreitung des türkischen Einflusses durch sanfte Macht von der Mongolei bis vor die Tore Wiens vor. Doch der Annäherung an den Iran und an die arabische Welt und auch an Russland sind Grenzen gesetzt. Angesichts seiner Historie wird es die Türkei

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