Europa nach dem Fall
Staatsführer und Außenminister haben Beijing immer öfter besucht und dem neuen China und seinen Führern großes Lob gezollt. Als Angela Merkel mit ihrem halben Kabinett im Juli 2010 nach China flog, vergaben ihr die Chinesen, dass sie drei Jahre vorher den Dalai Lama empfangen hatte, und sie kehrte mit einer erklecklichen Anzahl von Verträgen zurück. Einige größere deutsche Unternehmen – BMW beispielsweise – hatten die Krise dank fetter chinesischer Aufträge überstanden, weil es einen nach Expertenmeinung »unersättlichen Bedarf« an Premium-Limousinen gab. Deutschland war Chinas größter Handelspartner in Europa, denn es exportierte und verkaufte mehr als Großbritannien und Frankreich zusammen.
Als Hu Jintao, der chinesische Präsident, Paris im November 2010 besuchte, machte die französische Regierung daraus einen großen Staatsakt. Präsident Sarkozy und seine Gattin begaben sich zum Flughafen, um Hu Jintao zu begrüßen, eine noch nie da gewesene Geste. War das Zeitalter der Menschenrechte ersetzt worden durch die Ära des Kotau (dreimal niederknien, neunmal den Kopf auf den Boden schlagen)? Das stand jedenfalls in starkem Gegensatz zur Situation zwei Jahre zuvor, als Präsident Sarkozy mit einem Boykott der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Beijing gedroht hatte, um gegen Chinas Vorgehen in Tibet zu protestieren. Diesmal tauchten die Menschenrechte und das Schicksal von Dissidenten in China nicht auf. Frankreich konnte es sich angesichts seiner sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage nicht leisten, bedeutende Verträge zu verlieren. Der chinesische Erwerb von 36 Airbussen stand auf dem Spiel, wie auch größere Abschlüsse mit dem Nuklearenergie-Riesen Areva und mit Total, der französischen Erdölgesellschaft. Sarkozy versuchte ohne großen Erfolg, Chinas Zustimmung zu einer Korrektur des Währungskurses zu erhalten.
Um nicht hinter den deutschen und französischen Kollegen zurückzustehen, verteilte der britische Premierminister David Cameron bei einem Besuch im November 2010 großzügig Komplimente an China. In einer Rede an der Beida Universität (Universität Peking) sagte er, dass China sich während der letzten 20 Jahre so sehr verändert habe, dass es nicht wiederzuerkennen sei (er war 1985 als Student in Hongkong gewesen). Er zitierte die chinesische Nationalhymne und sagte, dass das chinesische Volk nicht nur in seinem eigenen Land, sondern in der Welt aufstehe, dass China sich als große globale Macht entpuppt habe, dass keine bedeutende Frage mehr ohne China erörtert werden könne, das später in diesem Jahrhundert seine Stellung als die weltgrößte Wirtschaft behaupten werde. In den letzten Jahren hat sich China stark in Afrika wie auch in den europäischen Ländern eingekauft, die am stärksten von der Rezession betroffen waren.
Die EU unterhielt mit China nicht nur etwa 20 »sektorale Dialoge«, sondern auch eine »strategische Beziehung«, ein bedeutsam klingender, aber in Wahrheit ziemlich leerer Begriff. Es wäre sehr nützlich gewesen, wenn die EU ihre Politik gegenüber China koordiniert hätte, doch das Gegenteil war der Fall: Die zahlreichen Handelspartner überboten sich und stachen einander aus. Timothy Garton Ash vom Guardian berichtete zur Zeit des G-20-Gipfels in Seoul aus Beijing: »Ich hege den Verdacht, Chinas Führung … kichert in ihren Tee über die würdelosen Possen der Europäer, die einst ihr Land ausgeplündert und erniedrigt haben. Denn heute erscheinen die Europäer wie Bittsteller vor dem Kaiserthron, die um Geschäfte betteln, um ihre strauchelnde Wirtschaft wieder aufzurichten.«
Die chinesische Reaktion ist insgesamt höflich geblieben, doch allmählich erinnerte sie an den berühmten Brief, den Kaiser Quanlong an König George III. im 18. Jahrhundert schickte. Er sandte dem englischen König zwar wertvolle Geschenke, gemahnte ihn aber an seinen untergeordneten Rang. Schließlich sehne sich König George »nach den Segnungen unserer Zivilisation«, daher habe er Gehorsam zu zeigen und unterwürfig zu sein. In die Sprache des 21. Jahrhunderts übersetzt, hieß das, Europa brauchte China mehr als China Europa. Und im 21. Jahrhundert hatte sich der bilaterale Handel zwischen 2004 und 2008 von 174 Milliarden auf 326 Milliarden Euro verdoppelt. Doch, wie Duncan Freeman festhielt, waren Chinas Exporte nach Europa weitaus größer als seine Importe und es gab ein europäisches Handelsdefizit von 133 Milliarden Euro. Während sich die
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