Europa nach dem Fall
Würdigungen. Es hat Studien gegeben, welche die Islamisierung Russlands vorhersagten, wohingegen andere Experten, darunter Alexander Malaschenko, solche Erwägungen als alarmistisch und irreführend betrachtet haben. Die russische Politik wird wie bisher darin bestehen, sich alle Optionen offenzulassen, doch deren Zahl ist begrenzt und nimmt offenbar ab.
Die Türkei als Retter
Schon seit fünf Jahrzehnten verhandelt die EU mit der Türkei über einen Beitritt, doch die wirtschaftliche Rückständigkeit der Türkei hat diesen bis dato unmöglich gemacht. In jüngster Zeit machte die türkische Wirtschaft mit sechs (und mehr) Prozent Wachstum Jahr für Jahr ungeheure Fortschritte, mehr als jeder andere OECD-Staat. Mit 70 Millionen Einwohnern wurde die Türkei zu einem der kleineren »Tiger« im westlichen Wirtschaftsraum. Von der Rezession 2008-2009 wurde sie hart getroffen, erholte sich aber rasch. Aber es gab andere Dinge, die zum Stein des Anstoßes wurden. Während die USA und Großbritannien den Beitritt der Türkei stark unterstützten, waren die Länder mit nennenswerten türkischen Gemeinschaften dagegen, und zwar aus Angst vor einem weiteren Zustrom in ihre Länder. Die türkischen Wahlen wurden demokratischer, doch die in der Mehrheit der Bevölkerung vorherrschenden Meinungen waren nicht demokratisch. Es sah so aus, als wären die kemalistischen säkularen Reformen an einem Endpunkt angelangt. Sie wurden zum Teil abgeschafft, und Unterstützung für sie außerhalb des hohen Militärrats, der Justiz und einiger Bereiche der Intelligenzija war ziemlich schwach.
Die neue türkische Ideologie wurde von den Ansichten der unteren Mittelschicht und neueren Zuzüglern, die aus Ostanatolien in die Großstädte gekommen waren, geprägt und ausgedrückt. Es war eine Mischung aus gemäßigtem Islamismus und türkischem Nationalismus. Die türkische Politik war in den 1970er-Jahren von inneren Unruhen gekennzeichnet, als die Türkei in Nordzypern einmarschierte und es besetzte und der Kampf mit den Kurden sich intensivierte. Doch ihr Hauptanliegen war die stufenweise Ablösung vom Westen, Amerika wie auch Europa. In einigen westlichen Kreisen bestand Hoffnung, dass eine fest in einem vereinten Europa verankerte Türkei eine bedeutende Rolle als Vermittler im Nahen Osten spielen könnte. Doch diese Hoffnung verblasste allmählich, und es kam zu einer Gewissensprüfung – wer hatte die Türkei verloren?
Wahrscheinlich hatte das niemand, da die Hinwendung zum Osten eine natürliche Entwicklung darstellte, in Übereinstimmung mit den Traditionen und der Geschichte des Landes. Das russische Reich und später die Sowjetunion waren der traditionelle Feind der Türkei gewesen, der maßgeblich zum Zusammenbruch des Osmanischen Reichs beigetragen hatte. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg plante Moskau, sich die türkischen Provinzen Kars und Ardahan (sowie auch einen Bereich der Dardanellen) einzuverleiben, und das war zweifellos der Hauptgrund, warum die Türkei der NATO beitrat.
Doch als die Jahre vergingen, verschwand die sowjetische Gefahr, das Sowjetimperium brach zusammen und die Mitgliedschaft in der NATO wurde unnötig und aus Sicht des türkischen Nationalinteresses sogar eine Verlegenheit. Als zur Zeit des ersten Irakkriegs Amerika die Türkei bat, den Transport militärischer Einheiten in den Irak zuzulassen, wurde das Ersuchenabgelehnt. Der Islam war unter Kemal Atatürk und seinen säkularen Nachfolgern zurückgedrängt worden, doch in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden islamistische Elemente in der türkischen Politik stärker und das demografische Gleichgewicht verschob sich, als Millionen aus dem unterentwickelten Osten des Landes nach Istanbul, Izmir und in den Westen strömten. Die meisten dieser Neuzuzügler waren strenggläubig, weshalb die AKP erstarkte, die Partei, mit der sie sich identifizierten. Einer kürzlich durchgeführten Umfrage zufolge vertrat etwa die Hälfte der Türken die Ansicht, dass sie nicht wirklich als Teil des Westens angesehen werden könnten, da ihre Werte denen Europas so fern lägen.
Als die Idee eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union erstmals laut wurde, gab es auf beiden Seiten beträchtlichen guten Willen, doch es musste viele Verschiebungen geben, weil die Türkei so weit vom ökonomischen Minimum entfernt war, das von Mitgliedschaftskandidaten verlangt wurde. Zusätzlich wurde eine weitere Demokratisierung der türkischen Politik erwartet. Diese
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