Europa nach dem Fall
die Siegesgöttin, und römische Krieger pflegten vor einer Schlacht zu ihr zu beten. Jedenfalls ist die europäische Geschichte martialischer gewesen als die amerikanische.
Die Behauptungen sollten nicht ganz wörtlich genommen werden; Europäer und Amerikaner leben auf derselben Welt, und Kagan gestand ein, dass »Europäer sich nicht generalisieren lassen«. Doch solche Übersteigerungen halfen dabei, die grundlegenden Unterschiede im weltpolitischen Handeln stärker hervortreten zu lassen. Kagan hält fest, dass das Ende des Kalten Krieges die Meinungsverschiedenheiten verschärfte. Europa ist seit langer Zeit militärisch schwach, Amerika dagegen viel stärker. Europas größere Nachsichtigkeit gegen Bedrohungen und seine Unfähigkeit, darauf zu antworten, hat die Außenpolitik Europas geprägt: Diplomatie. Verhandlungen, Geduld, das Schmieden ökonomischer Bindungen, politisches Engagement, die Verwendung von Anreizen statt Sanktionen, das Vorgehen in kleinen Schritten und anderes. Wie der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, es in einer Rede 2001 in Paris ausdrückte, hatte Europa eine Rolle bei der politischen Gestaltung der Welt zu spielen, eine Rolle, welche die europäische Erfahrung in globalem Maßstab widerspiegelte. Darin ist die Divergenz der Ansichten zwischen Amerika und Europa vor allem begründet. Amerika war mächtig und bereit, seine Macht einseitig einzusetzen, während Europa seinen Auftrag darin sah, das Evangelium des Rechts, der Kultur und des ewigen Friedens zu verbreiten.
Was ließ sich tun, um Amerikaner und Europäer wieder einander näherzubringen? Was die grundlegenden Fragen anging, war Kagan nicht optimistisch. Vielleicht hatten einige der bedeutenden europäischen Staaten tief im Innern eine Erinnerung daran, was Macht, internationaler Einfluss und Ehrgeiz waren, doch das würde heißen, auf atavistische Impulse zu bauen. Womöglich hätte die Regierung von Bush junior (und auch die von Clinton) damit aufhören können, Europa als einen Klotz am Bein zu betrachten, mehr Achtung vor Multilateralismus bekunden und »gehörigen Respekt vor der Meinung anderer« zeigen können, wie es die Gründerväter formulierten. Kagan, der offenbar nicht mit einer zu pessimistischen Note enden wollte, sagte, dass mit ein wenig Verständnis sehr weit zu kommen sei.
Doch wir sind nicht sehr weit gekommen, wie die folgenden Jahre zeigen würden. Optimismus hinsichtlich der Lage der Welt war 2001 (trotz des 11. Septembers) viel einfacher als zum Ende des Jahrzehnts. In der Zwischenzeit hatten sich die Vereinigten Staaten auf die anscheinend nicht enden wollenden Kriege im Irak und in Afghanistan eingelassen, und ein sich zwar ausdehnendes Europa war weiter geschwächt worden durch interne Unstimmigkeiten, die größtenteils (aber keinesfalls allein) von wirtschaftlichen und finanziellen Fragen herrührten, die auch Amerika bedrohten.
Lag es bei den Vereinigten Staaten an imperialer Überanstrengung, wie einige meinten? Eigentlich nicht. Die Sowjetunion brach nicht wegen ihrer militärischen Intervention in Afghanistan zusammen, noch wird dies den Vereinigten Staaten widerfahren. Es war jedoch ein typischer Fall völliger politischer Fehleinschätzung, einen Krieg (oder zwei Kriege) in der Hoffnung anzuzetteln, dass er billig und mit einem Minimum an militärischer Investition gewonnen werden könne. Wenn die Kriege schon für unvermeidbar gehalten wurden, hätte überwältigende Macht eingesetzt werden sollen, die zu einer vernichtenden Niederlage des Feindes geführt hätte, zu einem raschen Sieg und zu einem ebenso raschen Rückzug. Es ist durchaus denkbar, dass ein solches Vorgehen nur eine temporäre Lösung ergeben hätte und dass es nach einigen Jahren hätte wiederholt werden müssen. Doch eine solche Strategie gab es nicht im Weißen Haus und im Pentagon, genauso wenig wurde die iranische Bedrohung in Erwägung gezogen. Hätte es eine realistische Strategie gegeben, ist nicht sicher, ob es dafür auf Dauer öffentliche Unterstützung gegeben hätte, da viele Amerikaner offensichtlich nicht vom Mars sind.
Im Falle Afghanistans bestand die gerechtfertigte Furcht, dass das Land sich zu einem dschihadistischen Lager für Anschläge (möglicherweise mit Massenvernichtungswaffen) gegen Ungläubige auf dem ganzen Globus entwickeln würde. Doch angesichts geopolitischer Realitäten hätte sich solch ein Lager auch in einer Reihe von anderen Ländern einrichten lassen.
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