Europa nach dem Fall
Staat zu sein? Das, so dachte Cooper, blieb eine offene Frage, aber es wäre den Versuch wert. Die Ansicht, dass dies in der gegenwärtigen Welt zu erreichen wäre, hieß, den Optimismus sehr weit zu treiben. Und da bei der gegenwärtigen Stimmungslage die meisten Europäer keinen gemeinsamen Staat wollten, bedeutete das, sie würden es hinnehmen wollen, dass andere ihr 21. Jahrhundert gestalteten, es sei denn, die anderen Mächte würden irgendwie entscheidend geschwächt werden, woraufhin niemand das Jahrhundert gestalten würde – auch keine erfreuliche Perspektive.
An der Debatte über Europas Stellung in der zukünftigen Welt haben viele teilgenommen. Doch die Gewissheit, dass das zukünftige Europa nicht das gleiche sein wird, weil sich seine ethnische Zusammensetzung ändern und dies Auswirkungen auf seine Politik haben wird, stand nicht auf der europäischen Tagesordnung. Das wird auf den folgenden Seiten diskutiert werden.
Die Krise hat bislang keinen wirklichen Anstoß zu einer Politik der Stärkung Europas auf der internationalen Bühne gegeben, was eine Stabilisierung der Wirtschaft, den Aufbau einer koordinierten Verteidigung und selbstverständlich eine engere politische Zusammenarbeit beinhalten würde. Andererseits sind zahlreiche rasche (oder nicht so rasche) Lösungen vorgeschlagen worden, die mit weniger Aufwand die Lage bereinigen könnten. Das bezieht sich vor allem darauf, den europäischen Sockel durch Ausweitung zu verbreitern und Russland und die Türkei unter der etwas nebulösen Prämisse einer »gegenseitigen Abhängigkeit« einzubeziehen. Eine derartige Strategie beruht auf der Annahme, dass eine Unterstützung der außenpolitischen Ambitionen Russlands und der Türkei und ihre Integration in einen gemeinsamen europäischen Rahmen erheblich zu einem viel stärkeren Europa beitragen würden, einen europäischen Sicherheitspakt und eine neue stabile und sichere Weltordnung inbegriffen. Das ließe sich durch einen »Trialog« erreichen, der darauf abzielt, die beiden ins Auge gefassten Partner einzubeziehen, indem ihren politischen Zielen Rechnung getragen wird.
Diese Politik beruht auf einer falsch verstandenen Einschätzung der russischen und türkischen politischen Interessen und ihrer Einstellungen zu Europa. Die Einbeziehung der Türkei und Russlands würde zu einem ganz anderen Europa als dem derzeit bestehenden führen; es würde zu einer Verabschiedung von seinem Eintreten für Demokratie und Menschenrechte in der gegenwärtigen europäischen Auslegung führen. Es ist nicht klar, was dies zur Sicherheit Europas beitragen würde, denn weder die Türkei noch Russland haben die Absicht (oder die Macht), als die Janitscharen eines Kontinents zu dienen, für den sie keine besondere Achtung haben.
Es versteht sich von selbst, dass gute, fortschreitend engere Beziehungen zu Russland und der Türkei wünschenswert sind und dass es in diesen Staaten Minderheiten gibt, die eine Annäherung an Europa begrüßen würden. Möglicherweise wird sich im Lauf der Zeit in Russland und der Türkei eine Liberalisierung einstellen, aber dieser Prozess kann sich über Generationen hinziehen. Derzeit haben die meisten Türken und Russen sich eindeutig zu der Aussage bekannt, dass die europäischen Werte nicht die ihren seien, auch wenn es gemeinsame Interessen mit Europa gebe, und dass die Zukunft der Türkei eher im Osten als in Europa liege. Und Russland betreibe eine neue Westpolitik und sei daran interessiert, seine »Sphäre privilegierten Einflusses« wirtschaftlich und politisch auf Europa auszuweiten, aber die Theorie und Praxis der Demokratie könne es nicht übernehmen.
Kurz gefasst, die Strategie der »gegenseitigen Abhängigkeit« ist nicht realistisch. Im Falle eines Erfolgs würde Europa ganz anders aussehen als heute. Wenn Europa so viel schwächer geworden ist, wenn seine Wirtschaft tief greifender Reformen, seine Politik frischer vorantreibender Impulse bedarf, wenn seine Verteidigungskraft erheblich verstärkt werden muss, kann die Rettung nur von innen kommen in Form einer Wiederbelebung des angestammten politischen Willens. »Es rettet uns kein höh’res Wesen« heißt es in der Internationale, daher können es nur die Europäer allein schaffen, wenn sie den Wunsch dazu haben.
II. Auswege?
Bereicherung
Was hat in unserer Zeit in Europa zu Stagnation und Niedergang geführt? Es gab mehr als eine Ursache, und einige Gründe sind bereits erwähnt worden. Um zu einem Verständnis
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