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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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Es wäre klüger gewesen, wenn Washington die Lösung des Afghanistan-Problems den Nachbarländern überlassen hätte, die genauso, wenn nicht stärker, bedroht waren. Bedauerlich wäre es gewesen, wenn sich daraus Unstimmigkeiten unter Afghanistans mächtigen Nachbarn ergeben hätten (Russland, China, Pakistan, Indien und der Iran), was wahrscheinlich in der Zukunft der Fall sein wird. Doch solch eine Entwicklung hätte den politischen Entscheidungsträgern in Washington keine großen Kopfschmerzen bereitet; vielleicht hätte sich Washington in einer solchen Konstellation als Schiedsrichter einschalten können.
    Kagans Ansichten wurden zu der Zeit ausführlich diskutiert, fanden aber wenig Sympathisanten. Auch wenn Kagan kein Anhänger von Leo Strauss war, wurde die amerikanische Politik unter Bush häufig als neokonservativ, reaktionär, neoimperialistisch angesehen, als ein Rezept, die amerikanische Übermacht zu einer Zeit aufrechtzuerhalten, in der die Welt sich angeblich auf eine Verringerung von Spannungen und eine Multipolarität zubewegte.
    Falsche Vorstellungen grassierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In dem Artikel Das Ende des Endes der Geschichte (erschienen in The New Republic ) schrieb Kagan 2008, dass sich die frühere große Zuversicht auf ein neues Zeitalter der Konvergenz in dieser Welt als falsch herausgestellt hatte, vielmehr gab es mehr Divergenz als Konvergenz. Charles Grant, ein starker und überzeugender Verfechter eines vereinten Europas und Vorsitzender des in London ansässigen Centre for European Reform, neigte Kagans Meinung zu. Er glaubte noch 2010, dass die EU es nicht China, Russland und den Vereinigten Staaten überlassen sollte, die neue Weltordnung zu entwerfen. Denn deren Ordnung wäre seinen Worten nach illiberal oder überhaupt keine Ordnung.
    Wie aber war dieses Ziel einer Stärkung des europäischen Einflusses zu erreichen? Der europäische Beitrag zu ernsthaften Sicherheitsfragen hatte keinen Eindruck hinterlassen. Was bedeutendere und dringende internationale Probleme betraf, war die EU von der Bildfläche verschwunden. Die EU verfügte über einige sanfte Macht, aber nicht über sehr viel, und ihre wirtschaftliche Macht schwand dahin. Grant zitierte einen herausragenden chinesischen Kommentator mit der Aussage, dass eine Macht Munition und Mumm brauchte. Beides war in Europa kaum verfügbar.
    Wie ließ sich die Situation retten? Grant schlug vor, dass es keinen Sinn ergebe, die europäische Verteidigung aufzubauen, weil sich zu wenige Staaten darum kümmerten. Die europäische Außenpolitik sollte von einer kleinen Staatengruppe gemacht werden, denn 27 Köche verderben den Brei. Die gemeinsame Energiepolitik sollte absoluten Vorrang haben. Von allem anderen abgesehen, war dies für Europas Beziehungen zu Russland ausschlaggebend. Er betonte, dass Führungskräfte führen sollten, und machte eine Reihe weiterer vernünftiger Vorschläge, wobei er (mit den Worten David Millibands) davor warnte, »außen vor zu bleiben und andere für uns das 21. Jahrhundert gestalten zu lassen.«
    Grants Auslassungen wurden von Robert Cooper kommentiert, dessen Ideen zuvor schon erwähnt wurden. Er bezog sich auf die Entsendung europäischer Truppen in den östlichen Kongo und nach Aceh und darauf, dass die Erfolgsquote von Piratenangriffen vor der somalischen Küste sich halbiert hatte, doch er gab zu, dass Europa sich keinen größeren Gegnern entgegengestellt habe. Cooper räumte ein, dass der Entscheidungsprozess in Europa langsam war, dass dies aber auch gewisse Vorteile hatte, weil Europa auf diese Weise eher weniger Fehler beging. Cooper klang sicherlich viel weniger optimistisch als zehn Jahre früher (»Fehler sind in der Außenpolitik normal«): Aceh und der östliche Kongo waren keine großen Ruhmesblätter, und nach der Kürzung europäischer Verteidigungshaushalte von 2010 schien es unwahrscheinlich, dass Europa sich in der Zukunft selbst noch auf solche zweitrangige Expeditionen einlassen würde. Er bemerkte, dass die Welt keine weitere Großmacht nach Art des 19. Jahrhunderts brauche. Doch da die Welt solche Mächte noch zur Genüge hatte, wie konnte Europa sich unter diesen Umständen überhaupt noch einen Einfluss bewahren?
    Die EU stand für das Streben nach einer rechtmäßig geregelten Welt. Doch Cooper gab keine Antwort auf die Frage, wie dieses Streben ohne eine Handhabe zur Durchsetzung von Recht erfüllt werden konnte. Konnte Europa eine Macht darstellen, ohne ein

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