Europa nach dem Fall
Europas« eine schwergewichtige Untersuchung, die zu weitaus optimistischeren Schlussfolgerungen kam. Es treffe zu, dass die meisten Europäer nur ein lauwarmes Interesse an europäischen Angelegenheiten haben. Doch als sie gefragt wurden, ob sie auf der nationalen oder auf der europäischen Ebene mehr Entscheidungen haben wollten, stellten sie sich entschieden auf die europäische Seite.
Auf welchem Weg wäre die Zukunft Europas am besten zu sichern? Vergleichbare Lebensbedingungen sind der Schlüssel zur Antwort. In diesem Fall wird die Argumentation wieder auf die Ebene des gemeinsamen Markts heruntergereicht. Doch die Protagonisten der Europäischen Union haben schon seit Langem erklärt, dass die EU mehr als ein gemeinsamer Markt ist; sie sei auch eine Werteunion (wobei nicht immer deutlich gemacht wird, was diese Werte sind). War sie aber bereit und fähig dazu, für diese Werte zu kämpfen oder sie zumindest zu verteidigen?
Die Krise von 2008 führte nicht zum Ende der EU, aber sie brachte die Organisation auch einer Lösung der sie bedrängenden Probleme nicht viel näher. Zusätzlich zu den Problemen von 2005 taten sich der EU neue auf. Da waren zunächst einmal die internen Zwistigkeiten, die wachsende Zahl von Euroskeptikern, die wachsende Distanz zwischen der EU-Elite und den Menschen, die sie repräsentierte. In Zeiten der Wirtschaftskrise wollte Brüssel sein Budget um sechs Prozent erhöhen. Die Forderung wurde später verringert, dennoch wurde immer noch eine erkleckliche Summe verlangt, deren Notwendigkeit viele europäische Bürger nicht einsahen. Es wäre einfacher gewesen, die Europäer von dieser Notwendigkeit zu überzeugen, wären die führenden Persönlichkeiten in Brüssel von einem anderen Kaliber gewesen.
Diese internen Probleme wie die auch wachsenden Schwierigkeiten, einen europäischen Konsens zu erreichen, einmal beiseitegelassen, gab es auch noch die sich verändernde Weltlage – die Schwierigkeiten, auf den Weltmärkten zu konkurrieren, Chinas zunehmendes wirtschaftliches und politisches Gewicht (und selbstsichereres Auftreten), Europas Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen aus Russland und dem Nahen Osten, Amerikas große Schuldenlast und als Ergebnis davon Washingtons geschwächte internationale Position. Eine Verjüngung Europas war sehr erwünscht, doch sie würde kaum aus Waziristan und dem Jemen kommen. »Wir Europäer müssen unsere demografische Herausforderung in Angriff nehmen«, empfahl Project Europe 2030 . »Wenn keine sofortigen Maßnahmen ergriffen werden, wird unsere alternde Gesellschaft einen unhaltbaren Druck auf unsere Renten-, Gesundheits- und Wohlfahrtssysteme ausüben und unsere wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit unterminieren.« Das mag stimmen, doch der historischen Erfahrung zufolge gibt es keine Maßnahmen, die solche Ergebnisse garantieren.
All das hätte die Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit schärfen sollen, die EU und ihre Institutionen zu stärken. Doch das wurde nicht bewirkt. Vor allem änderte sich die Stimmung in Europa nicht zum Besseren. Es gab nicht viel Zutrauen in eine engere europäische Zusammenarbeit, doch es gab gleichfalls nicht viel Zutrauen in Alleingänge. Es zirkulierten alle möglichen Planungen für eine grüne, eine digitale und ein Dutzend anderer Zukünfte. Für junge Journalisten auf der Suche nach der unmittelbaren Zukunft wurden Touren organisiert. Doch die Begeisterung war verschwunden, und dem Projekt Europa war der Dampf ausgegangen; zugegebenermaßen nicht zum ersten Mal. Würde es in absehbarer Zukunft wieder Schwung bekommen?
Die Debatte über Europas Stellung in der Welt und seine zukünftigen Aussichten ist schon lange im Gange. Ihre jüngste Phase begann mit der Veröffentlichung von Robert Kagans Essay Macht und Ohnmacht ( Policy Review 2002 ), der bekannt wurde als der »Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus«-Essay. Er beginnt wie folgt:
»Wir sollten nicht länger so tun, als hätten Europäer und Amerikaner die gleiche Weltsicht oder als würden sie auch nur in der gleichen Welt leben. In der alles entscheidenden Frage der Macht – in der Frage nach der Wirksamkeit, der Ethik, der Erwünschtheit von Macht – gehen die amerikanischen und die europäischen Ansichten auseinander.«
Die Mars/Venus-Metapher wurde ziemlich beliebt, auch wenn Klassizisten und Historiker Zweifel hatten. Mars war eine komplexe Gestalt und Venus keineswegs die Göttin des Friedens. Sie war auch Venus Victrix,
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