Europa nach dem Fall
the White Man’s Burden –
And reap his old reward:
The blame of those ye better
The hate of those ye guard.
(wörtliche Übersetzung: »Schultert die Bürde des Weißen Mannes – / Und nehmt den Lohn seit jeher auf euch: / Den Tadel derer, die ihr bessert / Den Hass derer, die ihr behütet«.)
Zwei Jahre später folgte in seinem Recessional (»Damit wir nicht vergessen«) eine noch eindringlichere Warnung davor, zu machttrunken zu sein:
Far-called, our navies melt away;
On dune and headland sinks the fire:
Lo, all our pomp of yesterday
Is one with Nineveh and Tyre!
(wörtliche Übersetzung: »Von weither gerufen, schmelzen unsere Flotten dahin; / Auf Düne und Landzunge senkt sich das Feuer: / Ach, all unsere Pracht von gestern / Wird eins mit Ninive und Tyrus«)
Sehr früh erkannte Kipling, der Barde des Imperialismus, dass Europas Vorherrschaft nicht ewig dauern würde.
Doch Staatsmänner handelten so, als währte sie ewig, daher der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den sich Europa gar nicht leisten konnte. Am Abend des 4. August 1914 sagte der britische Außenminister Sir Edward Grey, als er von seinem Büro in Whitehall aus in der Abenddämmerung die Lichter »hervorspringen« sah, zu einem Freund: »In ganz Europa gehen die Lichter aus; wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.« Diese Worte sind unzählige Male zitiert worden und bildlich gesprochen sind die Lichter nie wieder angegangen. Die Welt von gestern war verschwunden.
Der Erste Weltkrieg zerschmetterte Europas Selbstvertrauen. Es stimmt, dass es sich noch eine Zeit lang an die meisten seiner Kolonien klammerte. Doch der Gläubiger der Welt war ihr Schuldner geworden, und es war klar, dass die Entente ohne die Vereinigten Staaten den Krieg nicht gewonnen hätte. Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes , 1918 erschienen, war schon 1914 zur Veröffentlichung bereit, doch das Buch hätte nicht entfernt so viel Aufmerksamkeit und Zuspruch erhalten, wäre es in diesem Jahr erschienen; erst der Krieg sorgte dafür.
Francesco Nitti, ein früherer italienischer Ministerpräsident, sagte schon alles in einem 1922 veröffentlichten Buch, Europa ohne Frieden (auch übersetzt als Das friedlose Europa und Europa am Abgrund ). Nach Nitti war Europas Moralgefühl geschwunden oder verschwunden. Der durch den Krieg angerichtete materielle Schaden ließe sich mit der Zeit reparieren, doch es hatte einen inneren Prozess des Verfalls gegeben. Europa war in 30 Staaten aufgeteilt, jeder mit seinem eigenen Nationalismus. Zuvor hatte es ein gemeinsames Gefühl der Solidarität und Verantwortung gegeben, das nun nicht mehr existierte. Das in Versailles und anderen Pariser Vororten zusammengeschusterte Europa führte zum Zweiten Weltkrieg, und diesmal war es nur mit der Hilfe der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu retten.
Intellektuelle sind des Europa-Defätismus bezichtigt worden. George Canning schrieb:
Nur Patrioten dieser Welt allein
Nicht Freund des eig’nen Landes sein.
Julien Benda schrieb sein Werk Verrat der Intellektuellen 1927, doch das war (was nun gewöhnlich vergessen wird) ein Essay gegen den Chauvinismus in Frankreich und Deutschland und gewann erst später seine allgemeine Bedeutung als Schilderung des Verrats der Intellektuellen an ihren wesentlichen Werten. Es stimmt, dass die antiwestlichen Ideologien und Regime des 20. Jahrhunderts einen starken Einfluss auf die europäischen Intellektuellen ausübten, da sie es mit den handfesten Monstrositäten des Faschismus und des Kommunismus zu tun hatten. Die Geschichte der Intellektuellen in der Politik des 20. Jahrhunderts ist sehr häufig eine sehr unschöne. Zwei weitere Beispiele mögen genügen. Während des Kalten Krieges gewann in Akademikerkreisen eine revisionistische Theorie an Einfluss. Obwohl dieser Denkrichtung zufolge Stalin nicht ohne Schuld war, waren doch beide Seiten zu verurteilen, der Westen sogar noch eher. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde diese Version ein wenig verändert: beide Seiten trugen Schuld, aber benahmen sich insgesamt verantwortlich.
In den 1990er-Jahren entwickelte sich eine etwas ähnliche Debatte, als nach Ansicht einer einflussreichen Gruppe von Akademikern »aufgeklärte Fundamentalisten« ihre Kritik am Islam überzogen und nicht so recht willens waren, ihm Zugeständnisse zu machen. Zusätzlich herrschte aber ein unterschwelliges Schuldgefühl hinsichtlich der imperialistischen Vergangenheit der
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