Europa nach dem Fall
Westmächte, obwohl Amerika sich in früheren Zeiten im Nahen Osten und Afrika nicht eingemischt hatte und europäische Länder nur kurze Zeit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Nahen Osten mitgemischt hatten. Die vorherrschende Mode moralischen und kulturellen Relativismus in Akademikerkreisen spielte auch eine deutliche Rolle.
Die Intellektuellen hatten einigen Einfluss auf die öffentliche Meinung, aber sie hatten keine Macht und ihre Nachwirkungen sollten nicht überbewertet werden. Ähnliche Haltungen existierten nach dem Zweiten Weltkrieg, weil die Intellektuellen sich der Gesellschaft entfremdet hatten. Wenn aber nach 1945 kein vereintes Europa auftauchte und wenn Europa sich einer Führungsrolle in der Weltpolitik entzog, so war die Entfremdung der Intellektuellen nicht der Hauptgrund.
Europa – ein Blick in die Kristallkugel
Im Sommer 2010, bevor die unmittelbare Finanzkrise überwunden und noch während die Schuldenkrise in vollem Gange war, wurde viel darüber geredet, ob die EU überleben würde, und Artikel in führenden Zeitschriften trugen Titel wie »Ein Blick in den Abgrund« ( The Economist ). Der Abgrund war vermutlich eine Welt ohne Euro und mit einem sehr reduzierten europäischen Sozialmodell, das dem Wohlfahrtsstaat an den Kragen ging. Es gab in Europa klare Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost. Die französische Regierung überstand Straßenschlachten wegen der Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre. Im Vereinigten Königreich und in Holland lösten Vorschläge, das Rentenalter auf 67 und sogar 70 heraufzusetzen, kaum größere Proteste aus. Es kam zu Kompromissen, da erkannt wurde, dass Proteste zu nichts führen würden, wenn das benötigte Geld nicht aufzutreiben war.
Doch die europäische Misere ging beträchtlich tiefer. Die CIA hatte im Januar 2005 vorhergesagt, dass Europa, wenn es nicht seine Sozialsysteme reformierte und wiederbelebte, wenn es keinen radikalen Systemwandel im Bildungs- und Steuersystem gäbe, dem Untergang geweiht wäre. Da Europa rasch alterte, brauchte es neue Einwanderer, und demgemäß würde die muslimische Bevölkerung bis 2025 auf zwischen 22 und 37 Prozent ansteigen. Die CIA sah auch den Zusammenbruch der NATO und des israelischen Staates und einige andere Entwicklungen voraus und prophezeite die Herausbildung eines mit den Vereinigten Staaten verbündeten Osteuropas. In darauf folgenden Einschätzungen des National Intelligence Council (2008 und 2010), die weit weniger ausführlich waren, taucht Europa kaum auf. Während Europa 2005 abgeschrieben worden war, wurde es 2010 wiederbelebt, wenn auch als »hinkender Riese«. Im Szenario 3, »Ein wiederbelebtes europäisches Konzert«, heißt es:
»In diesem Szenario führen etliche Bedrohungen des internationalen Gefüges – möglicherweise eine drohende Umweltkatastrophe oder ein Konflikt, der sich auszubreiten droht – zu größerer Zusammenarbeit bei der Lösung globaler Probleme. Eine merkliche Reform des internationalen Gefüges wird möglich … Die USA geben immer mehr Macht ab, während China und Indien größere Verantwortung übernehmen und die EU eine stärkere globale Rolle übernimmt.«
Das lässt sich aber nicht als wahrscheinliches Szenario betrachten, und es wird auch nicht deutlich gemacht, ob es bis zum Jahr 2025 noch eine Europäische Union geben wird. Nach Lektionen mit bitteren Erfahrungen fallen diese jüngsten Essays zum politischen Futurismus übervorsichtig und vage aus und werden den politischen Entscheidungsträgern wenig helfen. Es ist viel die Rede von internationaler Ordnung, aber weitaus weniger von internationaler Unordnung, von Wettstreit und Konflikt, gar nicht zu reden von gewaltsamen Entwicklungen. Zum Auftrag der CIA gehört es, kommende Ereignisse vorherzusagen, doch ihr sollte nicht eilfertig die Schuld an häufigen Fehlern gegeben werden, weil die Zukunft von vornherein unvorhersehbar ist.
Auf welchen Grundlagen beruhten die pessimistischen Prognosen für Europa? Einerseits beruhten sie zweifellos auf der Annahme, dass angesichts der alternden Bevölkerung der Wohlfahrtsstaat immer kostspieliger werden würde. Doch mehr Aufmerksamkeit hätte der Frage gelten sollen, ob Kosten eingespart werden könnten, ohne den Wohlfahrtsstaat an sich abzuschaffen. Zur gleichen Zeit veröffentlichte das Eurobarometer, die halboffizielle Meinungsumfrage der EU, unter dem Titel »Die Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher