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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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zu kommen, müssen wir eine Anzahl von Jahren, womöglich einige Jahrzehnte zurückblicken. War es unvermeidlich? Womöglich nicht in diesem Ausmaß. Als ich nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg wieder London besuchte, bot sich mir ein ziemlich schäbiger Anblick. Die Kriegsschäden waren überall noch sichtbar, insbesondere in der City und im East End; die Leute waren nicht gut angezogen und das Essen in den Restaurants war abscheulich. Es herrschte überall Knappheit und Essen, Kleidung und einige andere Sachen waren streng rationiert. Die Stimmung war aber zuversichtlich (die später als die »zornigen jungen Männer« bezeichneten Schriftsteller besuchten noch den Kindergarten). 1951 fand das Festival of Britain am Südufer der Themse statt, und zu diesem Anlass wurden alle möglichen neuen Gebäude hochgezogen, so zum Beispiel auch die Royal Festival Hall und der Dome of Discovery. Unterhaltung gab es zuhauf. Damals existierten, glaube ich, etwa 80 Theater in London, die vielen Music Halls und Kinos nicht eingerechnet. Die in diesen Jahren produzierten Filme, vor allem die aus den Ealing Studios, waren witzig, insbesondere die mit Alec Guinness. Jedenfalls gefielen sie mir mehr als das, was in allerjüngster Zeit produziert wird. London war eine überaus englische Stadt, natürlich mit einigen Enklaven – die Iren in Kilburn, Afrikaner und Westinder in Brixton, während die Juden vom East End nach Golders Green und Hendon zogen. Im Fernsehen, dem neuen und beliebtesten Medium, wurden herzerwärmende Krimiserien wie Dixon of Dock Green gezeigt, doch im Alltag gab es selten Verbrechen, und die meisten Streitigkeiten ließen sich bei einer Tasse Tee beilegen.
    In den nächsten drei Jahrzehnten wurde London wohlhabender. Wenn ein Freund oder Cousin aus dem Ausland in den 1970er-Jahren nach London kam und das sehen wollte, was neu in der britischen Hauptstadt war, wurde er zumeist zum Barbican geführt, einem Kulturzentrum mit zahlreichen Kunstgalerien, dem neuen Sitz des London Symphony Orchestra sowie zahllosen Restaurants, Pubs und Bars. Oder vielleicht zur Canary Wharf, dem ehemaligen Hafen für Schiffe aus Westindien mit seinen Lagerhäusern, die nun aber das neue Geschäfts- und Bankzentrum werden sollte – »vibrierend« war der angebrachte Begriff. Sogar ein neuer Stadtflughafen in der Stadtmitte war anvisiert worden. Die Tate Modern eröffnete 2000; die alte Tate Gallery war 1897 eingerichtet worden.
    Paris nach dem Krieg war anders. Kaum etwas war zerstört, aber auch praktisch nichts war gebaut worden. Rationierungen gab es nicht. Viele Lädchen hatten bis spät in die Nacht geöffnet; oft waren sie im Besitz von pensionierten Polizisten und ihren Frauen; verkauft wurden Butter, Milch und Eier. Das Essen in den Restaurants war ausgezeichnet. Doch die kleinen Renaults und Citroëns auf den Straßen waren größtenteils Vorkriegsmodelle und nicht sehr ansehnlich. Viele Filmstars aus der Vorkriegszeit hatten mit den Deutschen kollaboriert, einige mehr, andere weniger, aber ihre Karrieren litten nicht besonders darunter; die meisten beherrschten 1948 wieder die Leinwand. Doch auch die Stücke von Sartre und Camus waren in der Besatzungszeit aufgeführt worden. 30 Jahre später waren die meisten Lädchen verschwunden und die Autos waren schnittiger und schneller. Wie in London waren auch viele Kleinkunstbühnen, Kinos und Theater verschwunden. Ausländische wie auch inländische Besucher wurden zum Centre Pompidou bei Les Halles im 4. Arrondissement geführt. Es eröffnete 1977, war nicht besonders beliebt (weil die außen angebrachten Rohre eine Beleidigung fürs Auge darstellten), aber dort war immer was los und das Centre beherbergte über 50 000 Kunstwerke. Oder man brachte seinen Besuch nach La Défense, in das neue Geschäftsviertel mit vielen Wolkenkratzern und der beeindruckenden Grande Arche, das ein ganz neues Gesicht von Paris zeigte. Am Abend wäre man in eine der ehrwürdigen Kleinkunstbühnen gegangen; einige hatten im Zeitalter des Fernsehens schließen müssen, andere jedoch erlebten eine zweite Blüte.
    In Berlin hätte man seinem Besucher die Mauer gezeigt, aber die war nicht mehr so richtig neu; wenn ihn Architektur interessiert hätte, so war die Wahl klar – das Märkische Viertel und die von Gropius entworfenen Gebäude. Auch 2011 preisen die Reisebüros Ferien in Europa an – »Europa ist voller atemberaubender Attraktionen, darunter historische Städte und historische Ruinen,

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