Europa nach dem Fall
für Schwarz für mehr Farbe entscheiden und der Hidschab wird durch etwas Symbolischeres ersetzt werden. Vielleicht wird die Vorliebe für Kuskus durch die für Fish and Chips und Bockwurst ersetzt (und wenn nicht, was schadet es)? Vielleicht werden die Moscheen weniger besucht werden wie schon seit einiger Zeit die Kirchen in Westeuropa. Ist die Anziehungskraft der europäischen Lebensart so gering, dass sie von ausländischen Gepflogenheiten überwältigt werden wird? Könnte es sein, dass die Neueinwanderer bei ihren alten, aus Anatolien, Nordafrika oder Pakistan eingeführten Gewohnheiten bleiben, eben weil sie immer noch eine Minderheit darstellen, die Angst hat, ihre Identität zu verlieren, und dass sie erst, wenn sie das Gefühl haben, nicht mehr unter Belagerung zu stehen, sondern eine Mehrheit zu bilden, sich Einflüssen von außen öffnen und nicht mehr auf die Einflüsterungen ihrer religiösen Führer hören?
Vor 100 Jahren hätte ein Besuch der Commercial Road im Londoner East End, der Grenadierstraße und des Scheunenviertels in Ostberlin, der Viertel Belleville und Marais in Paris oder der Lower East Side in New York einen etwas sonderbaren und nicht gerade das Auge erfreuenden Anblick gezeigt: die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa in ihrer neuen europäischen oder amerikanischen Umgebung, die kleinen Synagogen, die billigen Imbissbuden, die Sweatshops, die fremdsprachigen Zeitungen, die Männer und Frauen in seltsamer, ausländischer Kleidung.
Doch es bestehen bedeutende Unterschiede zwischen diesen Einwanderungswellen. Zunächst einmal ist da das Ausmaß der Einwanderung. Damals kamen nur Zehntausende nach Westeuropa, keine Millionen. Die Migranten machten vor einem Jahrhundert große Anstrengungen, um sich sozial und kulturell zu integrieren. Vor allem wollten sie ihren Kindern eine gute säkulare Erziehung um fast jeden Preis ermöglichen, wie es chinesische und indische Einwanderer heute auch tun. Interkonfessionelle Heiraten waren schon in der ersten Generation häufig und in der zweiten noch mehr. Niemand half den Einwanderern; es gab keine Sozialarbeiter oder Sozialhelfer; niemand gab ihnen billige oder kostenlose Unterkunft; »Starthilfe« und »positive Diskriminierung« waren noch nicht erfunden. Es gab keine kostenlose Gesundheitsversorgung, keine Arbeitslosenunterstützung. Es gab kein soziales Auffangnetz – jeder war seinem Schicksal selbst überlassen. Es gab keine Regierungskommissionen, die die Ursachen der Judenfeindlichkeit analysierten und überlegten, wie sie zu bekämpfen war. Die eingewanderten Juden trieben Handel und ergriffen Berufe, weshalb ihnen ein rascher und spektakulärer sozialer Aufstieg gelang. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag zum kulturellen und wissenschaftlichen Leben ihrer neuen Heimat. Einige strebten danach, die alte Lebensweise des osteuropäischen Schtetls beizubehalten, doch die Mehrheit wollte Assimilation und Akkulturation.
Einige Beobachter meinen, solche Vergleiche seien unfair, weil die Juden in Ländern eintrafen, in denen auch die Einheimischen kaum mehr als einen Grundschulabschluss hatten, wohingegen die Muslime in einem beispiellos gebildeten Europa landeten. Doch dieser Vergleich hinkt. Die heutigen Einwanderer stammen tatsächlich aus Ländern, in denen der Bildungsstand besonders niedrig ist – aber warum ist er so niedrig? Sicherlich liegt das nicht am westlichen Imperialismus, doch der eigentliche Grund ist eine heiß diskutierte Frage. Schlussendlich kommt es in erster Linie auf die Motivation an, den Wunsch, zu lernen, sich besserzustellen. Wenn ein solches Streben nicht existiert, kann auch Hilfe von außen nichts ausrichten.
Viele Einwanderer der heutigen Zeit leben separat von den Gesellschaften ihrer Aufnahmeländer. Das trifft für große und kleine Städte zu. Sie haben wenige, wenn überhaupt, nicht-muslimische Freunde, mit denen sie höchstens am Arbeitsplatz zusammentreffen. Ihre Kenntnis der Landessprache ist rudimentär. Ihre Prediger erzählen ihnen, ihre Werte und Traditionen seien denen der Ungläubigen überlegen und jeder gesellschaftliche Kontakt mit ihnen, selbst mit den Nachbarn, sei unerwünscht. Die jungen Migranten beklagen sich, sie seien Opfer und würden ausgegrenzt, doch ihre soziale und kulturelle Ghettoisierung ist mehr oder weniger selbst gewählt.
Identifizieren sie sich mit ihrer neuen Heimat? An einem Tag ist zu hören, das seien Muslime (oder Türken oder Nigerianer), die zufällig in
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