Europa nach dem Fall
Großbritannien, Frankreich oder Deutschland leben. Am nächsten Tag verkünden die Meinungsumfragen, dass die Betreffenden patriotischer sind als die Einheimischen; wahrscheinlich sind Stimmungen und Überzeugungen einem raschen Wandel unterworfen. Politik, Kultur und Religion gelangen oft über arabische und türkische Fernsehsender zu den Einwanderern. Auf lokal begrenzter Ebene mag es Identifizierung geben, etwa wenn sie Anhänger des Fußballclubs ihrer Stadt wie etwa Hertha BSC oder FC Liverpool sind. Als Deutschland bei der letzten Weltmeisterschaft gegen Schweden spielte, schwenkten sie in Berlin die türkische und die deutsche Flagge. Dies ist ihr Land, was sie auch zeigen. Doch wenn Frankreich gegen Algerien (oder Deutschland gegen die Türkei) spielt, werden die Jungs aus der Banlieue oder aus Neukölln nicht die Nationalhymne mit anstimmen und nicht die französische oder die deutsche Mannschaft anfeuern. Dennoch hegen sie nicht den Wunsch, in die Türkei oder nach Algerien zurückzukehren. Daran ist nicht zu rütteln.
Doch warum nur das Augenmerk auf die muslimischen Einwanderer richten? Es gibt noch viele andere in den Großstädten Europas. So leben auch etwa 500 000 Inder in London und auch viele Sikhs. Doch was für ein Unterschied etwa zwischen Southgate in Nordlondon und Southwark südlich der Themse! Southgate ist indisch geprägt. Heutzutage sind nur noch 10 Prozent der Einwohner geborene Briten, aber es herrscht relativer Wohlstand, auch wenn noch ein paar heruntergekommene Sozialbauten zu sehen sind, und die Kriminalitätsrate ist nicht höher als anderswo. Auf dem Broadway gibt es zahllose Geschäfte und Restaurants. Südlich der Themse zeigt sich ein ganz anderes Bild. Als meine ältere Tochter in Peckham zur Schule ging, war das ein verschlafenes Viertel der Unter- und Mittelschicht, das in Muriel Sparks 1960 erschienenem Roman Die Ballade von Peckham Rye gut beschrieben worden ist. Heute leben hier hauptsächlich Menschen aus Afrika und der Karibik. Trotz massiver Investitionen durch die Regierung und die EU ist es mittlerweile ein Slum, schäbig und heruntergekommen, mit Messerstechereien und Schießereien. Es leben kaum noch Engländer dort, höchstens diejenigen, die sich einen Umzug nicht leisten können. Der Labour-Innenminister nannte Peckham eine nicht betretbare Zone. Es stimmt, dass es einige mutige Außenseiter noch hier hält. Clint Eastwood wählte das Heygate Estate für einige Hintergrundszenen in einem seiner jüngsten Gewaltfilme aus, aber er brachte sein eigenes Wachpersonal mit. Die wohlmeinenden Kritiker, die vor einer Medienhysterie warnen, wohnen nicht hier.
Ungefähr 250 000 Russen leben heute in London, aber sie werden nicht in Peckham zu finden sein. In den 1920er- und 1930er-Jahren war Paris das Hauptziel der russischen Emigration, doch heute ist es London, was aber viel weniger mit russischer Literatur und Kunst als mit der Einkommensteuerregelung zu tun hat. In London lebende Ausländer müssen keine Steuern auf im Ausland verdientes Geld zahlen, was erklärt, warum ein Dutzend russischer Milliardäre und auch zahllose Millionäre hier ihren Wohnsitz gewählt haben. Sie haben die teuersten Gebäude im Umkreis der Kensington Park Gardens aufgekauft – Schätzungen zufolge beliefen sich diese Erwerbungen auf mindestens drei Milliarden Dollar, etwa so viel, wie alle von Amerikanern und Arabern getätigten Hauskäufe zusammen.
Oder nehmen wir Paris – was für ein Unterschied zwischen den schwarzafrikanischen muslimischen Vorstädten Clichy-sous-Bois, wo 2005 die Unruhen begannen, Choisy, Ivry und Vitry auf der einen und dem asiatischen Paris auf der anderen Seite, darunter die chinesischen und vietnamesischen Viertel, zum Beispiel Belleville oder das 3. und das 13. Arrondissement. Der große Unterschied ist in erster Linie mit dem Hinweis auf die Arbeitslosigkeit erklärt worden, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit. Das aber wirft die Frage auf, warum es bei manchen ethnischen Gemeinschaften Arbeitslosigkeit gibt, bei anderen hingegen viel weniger. Einige meinen, das sei das Ergebnis ethnischer und rassischer Diskriminierung. Viele sind bereit, das zu glauben. Aber entspricht es auch der Wahrheit?
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