Europa nach dem Fall
wäre als jede bisherige in den Annalen der Menschheit. Aber Europa hat Amerika nicht überholt, sondern fand es im Gegenteil immer schwieriger, mit China und Indien zu konkurrieren. Das Wesen der Macht in der Weltpolitik veränderte sich nicht radikal, und die Vorhersagen von gestern schienen den Fakten der realen Welt immer mehr entrückt.
Wenn wir 30 oder sogar nur 15 Jahre zurückblicken, können wir schon einschränkende Umstände für eine Vision dessen finden, was nun als reiner Wunschtraum erscheint. 1945, als die Waffen schwiegen, dachten viele, dass Europa am Ende war und sich nie wieder erholen würde. Aber es erholte sich, und binnen eines Jahrzehnts gab es das Wirtschaftswunder nicht nur in Deutschland. Die Erholung war aber nicht nur wirtschaftlich. Der Lebensstandard in Europa war nicht nur höher als vorher, es wurde auch der Wohlfahrtsstaat eingerichtet, um unter anderem eine grundlegende Gesundheitsversorgung, freie Bildung und Arbeitslosengeld zur Verfügung zu stellen. Die europäischen Staaten lebten in Frieden miteinander, Grenzen wurden schrittweise abgebaut, und es gab keine Gefahr eines Krieges, außer vielleicht im Grenzbereich Europas, auf dem Balkan. Europa war auf dem Weg zur Weltmacht, aber es kam dort leider nicht an. Irgendwo unterwegs ging ihm der Dampf aus.
Europa war im Kalten Krieg geteilt gewesen. Die Mauer fiel mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und die osteuropäischen Staaten wurden frei. Im Rückblick gab es zu einer bestimmten Zeit guten Grund für Optimismus. Es stimmt, dass Europa sich nicht als großer Spieler in Weltangelegenheiten erwiesen hatte, sondern sich auf sanfte Macht mit all ihren Einschränkungen verlassen musste. Es hatte jedoch große Schritte hin zu einer engen Zusammenarbeit getan. Gemeinsame Institutionen hatten sich herausgebildet, und es gab Grund zur Annahme, dass es in ein paar Jahren eine gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik geben würde, sodass der alte Kontinent wieder eine Rolle auf der Weltbühne spielen konnte, die in Übereinstimmung war mit seiner Geschichte und seiner Wirtschaftsmacht. Doch es gab schon in den 1970er-Jahren Warnsignale, als der große Boom sich abkühlte und Arbeitslosigkeit um sich griff. Die Begriffe »Euroskeptizismus« und »Eurosklerose« entstanden schließlich schon in den späten 1980er-Jahren. Doch sie bezogen sich auf die Rigidität des europäischen Arbeitsmarkts mit seinem Auf und Ab und nicht auf Europas politische Zukunft. Erst in späteren Jahren stellte sich ein signifikanter Wandel in den Haltungen zu Europa ein. Das Tempo der weiteren Einigung verlangsamte sich trotz der Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, und anderer scheinbar wichtiger Maßnahmen. Die Europa-Begeisterung, die früher so verblüffend und zuversichtlich war, erlahmte.
Wichtiger noch waren die demografischen Warnsignale. Die Experten schlugen in den 1990er-Jahren Alarm. Eine Reihe von Werken von Alfred Sauvy, dem bekanntesten französischen Demografen seiner Generation, und seinem Schüler Jean-Claude Chesnais erregten ziemliche Aufmerksamkeit (Chesnais’ La crépuscule de l’Occident und La revanche du Tiers Monde und Sauvys Croissance zéro ). Nach Chesnais’ Worten war Europa alt und starr, daher verlor es an Kraft. Das wäre als natürlicher Zivilisationszyklus anzusehen, womöglich sogar unvermeidlich. In Deutschland verschaffte sich Herwig Blog, ein anerkannter Professor und Vorsitzender der Berufsorganisation der deutschen Demografen, nach langer Zeit Gehör mit seinem Werk Die demographische Zeitenwende , was wiederum einen führenden Journalisten, Frank Schirrmacher, zu seinem Buch Das Methusalem-Komplott inspirierte, in dem er die Probleme einer alternden Gesellschaft analysierte und damit monatelang die Sachbuch-Bestsellerliste anführte.
Düstere Vorhersagen wurden in den 1980er-Jahren in rechtsgerichteten Kreisen Russlands zur Zukunft gemacht; das Gespenst des Alkoholismus, des größten sozialen Übels, wurde heraufbeschworen. Es wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass immer weniger Kinder geboren wurden, dass es eine Massenflucht aus dem ländlichen Raum gab und dass die Lebenserwartung (besonders die der Männer) in der Sowjetunion beständig abnahm. Russland ist sich selbst heute seiner demografischen Zukunft noch nicht ganz bewusst geworden. Obwohl die Lebenserwartung bei den Männern leicht gestiegen ist und die Zahl der Geburten die der Todesfälle übersteigt, ist die
Weitere Kostenlose Bücher