Europa nach dem Fall
majestätische Schlösser, bezaubernde Landschaften und wunderschöne Mittelgebirge.« Der Liste ließe sich leicht noch eine sonntägliche Bootsfahrt auf einem Fluss anfügen, sei es die Themse, die Seine oder der Rhein, die alle sehr viel sauberer geworden sind. Das atemberaubende Capri oder Portofino genießen, mit Nana Mouskouri au bord de l’eau spazieren, im Schwarzwald wandern, den Louvre oder den Prado oder – für weniger geistige Geschmäcker – den Tivoli in Kopenhagen besuchen.
Das Jahr 2005 verlief in Paris und Umgebung nicht ruhig. Auch anderswo wurden hitzige Debatten über die Zukunft des Kontinents geführt. Immer mehr Menschen zeigten Interesse an der Demografie, die, wie einige Weisen aus dem 19. Jahrhundert vorhersagten, das Schicksal war. Einigen zufolge würde der alte Kontinent bis 2050 oder zumindest bis 2100 größtenteils muslimisch sein. Solche Vorhersagen wurden jedoch nicht so ernst genommen, teils weil die meisten Menschen dachten, sie würden nicht so lange leben, teils weil demografische Vorhersagen sich manchmal als falsch erwiesen hatten. Irgendwie würde es schon gehen, wie so oft in der Vergangenheit. Jedenfalls kam nicht lange darauf die Rezession und die Leute waren mit viel unmittelbareren Sorgen beschäftigt.
Wenn heute der Besucher fragen sollte, wo was los ist, fiele die Entscheidung leichter. So schrieb der Kritiker meines Buchs Die letzten Tage von Europa im Economist : »Tatsächlich haben europäische Städte wie London oder Berlin dank der Einwanderer aus der ganzen Welt einen neuen Schwung erhalten.« Schauen wir uns nach dem neuen Schwung doch in Berlin Mitte um mit den neuen Ministerien, dem Zentrum der neuen Hauptstadt. Allerdings war Berlin schon früher eine Hauptstadt mit vielen Ministerien zwischen Wilhelmstraße und Bendlerstraße. Sollte der Besucher wirklich den Schwung in Reinkultur sehen wollen, bräuchten wir nicht auf lange Erklärungen oder abstrakte Beschreibungen zurückzugreifen, denn ein kurzer Spaziergang oder eine Busfahrt würden genügen, um eine Vorschau auf kommende Zustände zu erhalten.
Ausgezeichnete Ausgangspunkte wären Neukölln oder das Kottbusser Tor in Berlin oder St. Denis oder Evry in der Banlieue von Paris. Das Zurechtkommen ist schon ein gutes Stück leichter geworden. Es gibt weniger Sprachschwierigkeiten, denn das Verlan, die Umgangssprache der Banlieue, besteht laut Le Monde aus 400 Wörtern. Es stimmt, dass in Kreuzberg (von Einheimischen nach dem alten Postzustellbezirk auch SO 36 genannt) und Neukölln türkische Sprachkenntnisse hilfreicher wären als deutsche. Unter der jungen Generation wäre wahrscheinlich die Kanak Sprak sogar noch zielführender (einen Vorgeschmack davon können Sie in den Übersetzungen von Schneewittchen und Hänsel und Gretel in die Kanak Sprak bekommen). Experten zufolge besteht sie aus etwa 300 Wörtern, von denen ein Drittel fäkalen oder sexuellen Ursprungs ist und ein weiteres Drittel mit Motorfahrzeugen zu tun hat. Der Rest setzt sich aus ganz unterschiedlichen Elementen zusammen. Wer diese Sprache versteht, mag auch die Dialoge in der berühmten amerikanischen Fernsehserie The Wire ohne Untertitel verstehen. In Großbritannien ist die Hip-Hop-Sprache Mode geworden, eine interessante Mischung aus Materialismus und Nihilismus. Sie hat auch viel mit Gewalt und Pitbulls zu tun. Ihre Ursprünge sind jamaikanisch, aber kaum islamisch.
In London würden wir unserem Besucher zu einem Spaziergang entlang der Edgware Road vom Marble Arch aus raten oder wir könnten, wenn er sich etwas weiter hinauswagen möchte, den Bus nach Tower Hamlets (dem alten East End) oder Lambeth nehmen, wo der Erzbischof seinen Amtssitz hat, oder nach Lewisham. Wenn unser Besucher besonderes Interesse an Südostasien hätte, würden wir ihn nach Brent im Norden mitnehmen, oder wenn er Afrikaner sehen möchte, würden wir mit dem Taxi nach Peckham fahren. The East Enders ist in den letzten 25 Jahren die erfolgreichste englische Seifenoper gewesen, die vom Leben und den kleinen Abenteuern einiger Familien in diesem Stadtteil Londons berichtet. Sie gibt vor, in der heutigen Zeit zu spielen, aber wir würden sie nicht als realistischen Reiseführer für das heutige East End empfehlen. Die Kommission für Rassengleichheit hat nämlich zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Serie eine sentimentale Wiedererweckung des East End der 1960er-Jahre darstellt, als die überwältigende Mehrheit der Bewohner zur weißen Arbeiterklasse
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