Europa nach dem Fall
Europa in einen kulturellen Vergnügungspark verwandeln, in ein gehobenes Disneyland für wohlsituierte Besucher aus China und Indien, ein Brügge, Venedig, Versailles, Stratford-upon-Avon oder Rothenburg ob der Tauber, nur in viel größerem Maßstab? Solche Parks existieren bereits. Als die Kohlezechen im Ruhrgebiet geschlossen wurden, wurde bei Dortmund die Warner Bros. Movie World eröffnet, wo es Batman, aber auch das Agfa-Museum der deutschen Filmgeschichte zu sehen gibt. Essen wurde im März 2006 sogar zur europäischen Kulturhauptstadt für 2010 ernannt. Frühere Kulturhauptstädte waren etwa Glasgow und Antwerpen.
In so einem Europa gäbe es Fremdenführer, Gondolieri und Dolmetscher, die verkünden: »Meine Damen und Herren, Sie besichtigen die Schauplätze einer hoch entwickelten Kultur, die einst führend in der Welt war. Sie gab uns Shakespeare, Beethoven, den Wohlfahrtsstaat und viele andere feine Dinge.« In Berlin gibt es heute schon geführte Touren zu sozialen Brennpunkten (»Kreuzberg, der farbigste Bezirk – zwei Stunden«). Die Universität Cambridge ist zu einem Muss für viele gebildete chinesische Touristen geworden, weil es ein berühmtes chinesisches Gedicht über sie gibt. Doch Louis Vuitton, Hugo Boss und Gucci ziehen noch mehr Besucher aus dem Fernen Osten an, und Kenntnisse in Mandarin sind für diejenigen, die in den teuersten Geschäften Europas arbeiten, praktisch obligatorisch geworden. Etwa 900 000 Chinesen kamen 2004 als Touristen nach Westeuropa. 2010 war ihre Zahl auf 2,4 Millionen gestiegen. Sie haben die Russen bei den Ausgaben für Luxusgüter überflügelt.
Meine Vision eines kulturellen Vergnügungsparks Europa inspirierte offensichtlich die bekannte kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakuli ć zur Vision von Freilichtmuseen, Euroskansen genannt (nach dem Vorbild eines Freilichtmuseums in Stockholm), die, über ganz Europa verteilt, die Haupteinnahmequelle für den alten Kontinent bilden werden. 2050 werden Fremdenführer Schulkindern erzählen, wie Europäer früher gelebt haben. Frau Drakuli ć s Idee einer Selbst-Musealisierung im großen Stil wirkt überzogen und ihre Erklärung, wie es dazu kam (die Jagd nach endlosem Profit), schon ziemlich simpel.
Dieses Szenario europäischer Vergnügungsparks mag im Augenblick etwas weit hergeholt erscheinen, doch bei den gegenwärtigen Trends stellt es eine Möglichkeit dar, die nicht von der Hand zu weisen ist. Der Tourismus ist in der Schweiz schon seit Langem von überragender Bedeutung. Mit einer Wachstumsrate von 4 Prozent jährlich und mehr ist er nun in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal und einigen anderen Ländern von großer Bedeutung. In etlichen europäischen Ländern wird der Tourismus zum wichtigsten einzelnen Aktivposten der Wirtschaft und zum wesentlichen Devisenbringer. Mehr als 50 Millionen Chinesen pro Jahr reisen zu überseeischen Zielen. Es könnten bald 100 Millionen sein.
Wenn Europa seine politischen, sozialen und wirtschaftlichen Hausaufgaben gemacht hat, wieder auf den Weltmärkten mithalten kann und zumindest in gewissem Maß wieder gut aufgestellt ist, könnte es dann einen Platz in der neuen Weltordnung finden? Es wäre ein bescheidenerer Platz als in der Vergangenheit, aber immer noch respektabel. Was aber, wenn der allgemeine Niedergang anhält? Die Lage in Europa unter dem Einfluss massiver Einwanderungswellen könnte sich der in Nordafrika und dem Nahen Osten vorherrschenden angleichen. Diese und vielleicht einige andere Szenarios zwischen den Ex tremen erscheinen derzeit vorstellbar. Doch unmöglich erscheint es, dass das 21. Jahrhundert das europäische Jahrhundert werden wird, wie es einige Beobachter, hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten, noch bis in allerjüngster Zeit behauptet haben. Sie sahen ein geeintes Europa, das nicht nur zur US-amerikanischen Wirtschaft aufgeholt hat, sondern diese wahrscheinlich bald überholen würde. Ihrem Szenario nach würden die Staaten in Europa dann in Frieden miteinander und mit ihren Nachbarn leben; sie hätten eine bestimmte Lebensweise entwickelt, ein zivilisierteres und humaneres Modell als alle anderen geschaffen. Sicher, Europa wäre nicht mehr das, was man als eine echt politisch-militärische Supermacht bezeichnet, aber mit seiner »transformativen Macht« als Vorbild würde es die Welt verändern. Kurzum, der Rest der Welt würde immer mehr wie Europa werden und sich auf eine Ordnung zubewegen, die gerechter und humaner
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