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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Handlung?, fragte die Frau mit einem nervösen, aufreizenden Lächeln. Warum nennen wir sie nicht ein Mysterium?
    Mit zusammengekniffenen Lippen und ganz leicht vorgeschobenem Kinn sagte die Krupskaja: Dann haben Sie aus fanatischem Aberglauben gehandelt …
    Ich habe auf Lenin geschossen, weil ich ihn für einen Verräter halte.
    Dann verdienen Sie den Tod. In einer Zeit wie dieser, in der Russland …
    Natürlich bin ich eine Fanatikerin. Je weniger Möglichkeiten ich habe, desto dringender brauche ich meine Vorstellungskraft.
    Ich kann Sie nicht verstehen.
    Der grüblerische Mund sprach: Nadeschda Konstantinowna, Sie wissen ganz genau, was wir fordern: allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit, Macht den Bauern, eine repräsentative Volksregierung …
    Aber Ihre pseudodemokratischen Phrasen stehen auf der ganzen Welt in den Verfassungen der kapitalistischen Republiken! Verstehen Sie denn nicht, dass sie nichts bedeuten? Wie können Sie das allgemeine Wahlrecht fordern, wenn die Reichsten die Wahl bestimmen? Pressefreiheit – wem gehört diese Presse? Eine Volksregierung – wer ist das Volk? Sie haben sich zu einer Schachfigur der Weißen Garde machen lassen …
    Selbst eine Schachfigur entscheidet manchmal das Schicksal, erwiderte die Frau mit anmutigem Lächeln.
    Ihr Sozialrevolutionäre wollt in der Mitte stehen; das ist euer Fehler. Ihr versucht, dem Volk einzureden, dass man sich nicht zwischen uns und den Kapitalisten entscheiden muss. Das ist ein Verbrechen, für das man euch alle erschießen muss wie tollwütige Hunde …
    Aber die Verbrecherin lächelte zu diesen Gegenargumenten wieder nur. Etwas beinahe Unausdrückbares fand in ihr seinen Ausdruck. Was war es? Die Empörung und der Hass der Krupskaja wurden langsam von Anzeichen einer trüben Verwirrung verdrängt.
    10
    In Lenins Augen glitzerte das berühmte ironische Funkeln, als er zu Stalin sagte: Hoffentlich ist sie gut. Du weißt, dumm ist Nadja nicht.
    Stalin grinste unverschämt zurück und dachte: Über ihre Intelligenz wird man möglicherweise diskutieren müssen.
    Und mehr noch der schaurigen Gleichklänge: Nadja war zufällig auch der Name von Stalins braunäugigem Eheweib, zwanzig Jahre jünger als er, das er eben geheiratet hatte und das ihm jetzt schon Ärger bereitete. Natürlich war sie so schön wie eine vollkommene Geschichte. Die Locken umspielten ihr Ohr wie eine Nachahmung des Buchstabens Pe ; einer der wenigen nicht eckigen im hebräischen Alphabet, er ist nicht nur mit dem Ohr verknüpft, sondern auch mit Unterwerfung (und, natürlich, deren Gegenteil) und zufällig auch mit dem Traum aller Politiker, ewig vollendeter Redegewandtheit. Zu ihren Lebzeiten war die Genossin N. A. Stalin wahrlich nicht mehr als ein geknechtetes Ohr. Scharfsinniger als die Krupskaja, oder zumindest empfindsamer, wurde sie von Freunden und Verwandten mit dem abgegriffenen Bild des zitternden Rehs beschrieben. Ihre Zukunft war der Freitod. Neben ihrer blutenden Leiche hinterließ sie einen Zettel, in dem sie die Verbrechen ihres Gatten anprangerte. Und so dominierte sie ihn am Ende wirklich, und ihm hing jener Buchstabe Pe von nun an für immer über dem Kopf, unerreichbar, und verdammte ihn. Aber im Jahr 1918 war ihr finales Zerwürfnis noch vierzehn Jahre entfernt. Stalin hatte ein paar Lettern der drohenden Botschaft auf ihrer Stirn entziffert, aber er hielt ihr Schweigen für Leere und redete sich ein, dort nichts gelesen zu haben – eine klägliche Abweichung von seiner Paranoia allen anderen Menschen gegenüber. In sein Gesicht schrieb Gott: Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er traf mich, und vor dem mir bangte, das kam über mich. [ 6 ] Ohne Zweifel färbte dieses Motto seinen Blick auf die Krupskaja. Gelegentlich hatte sie sich in fraulicher Beflissenheit zwischen Lenin und ihn gestellt, was unverzeihlich war. Und im gegenwärtigen Fall stellte ihre zwanghafte Zuneigung zu einer Verräterin, der sie nie begegnet war, nicht weniger als einen Anschlag auf die Partei dar. Sie hatte Lenin blamiert. Hier bot sich eine Gelegenheit, auf einen Streich Lenin
einen Gefallen zu tun und der alten Vettel einen Dämpfer zu verpassen. Außerdem hatte er nun ein perfektes Mittel in der Hand, um Lenin zu erpressen, falls das jemals nötig werden sollte.
    Also zündete Stalin sich die Pfeife an, als die Schauspielerin zu ihm ins Büro gebracht wurde und so kerzengerade vor ihm stand wie der Buchstabe Waw , der an einen Nagel erinnert, sah sie sich von

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