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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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und sagte: Ich möchte, dass du glücklich bist, mir zuliebe. Für mich bist du der lachende Mann aus »Wolga-Wolga«.
    13
    Oft träumte er, er sähe Elena durch ein Fenster. Er fragte sich, ob Schostakowitsch, der sich, wie es hieß, sehr an Elena geklammert hatte, solche Träume kannte; offenbar hatte dieser Mann seine Frau nur aus Charakterschwäche nicht für sie verlassen. Hoffentlich war es ihm inzwischen gelungen, Elena zu vergessen. Elenas derzeitiger Ehemann hatte nicht vor, sie zu vergessen; ganz im Gegenteil; aber selbst in seinen Träumen schaffte er es nicht mehr, sie sich ganz gegenwärtig zu machen. Im Bett stritten sie; sie wandte ihm den Rücken zu; einsam und elend schlief er ein. Wo war er nun? In dieser anderen Welt ging alles ewig weiter. Er glitzerte und schwebte, ohne wirklich zu wissen, dass es ihn gab. Dann sah er Elena durchs Fenster, nackt, das Gesicht einer anderen nackten Frau an ihrem; sie lehnte sich zurück, den Kopf ein wenig vorgebeugt, sie hielt den Kopf der anderen Frau in ihren Händen, ihre Finger in deren Haar gegraben; und die andere Frau hatte in Ekstase die Augen geschlossen, fast wie im Schrei, den Mund mit herausgestreckter Zunge weit geöffnet; während seine Gattin, die ihre Augen auch geschlossen hielt, sanft an der Oberlippe dieser anderen Frau nuckelte, fast wie ein Baby an einer Brustwarze, die Lippen ganz ruhig geöffnet. Die andere Frau, die er noch nie gesehen hatte, war die Aktivere, Eifrigere von beiden, keuchend vor Verlangen nach seiner Gattin, die diese so süß in den Armen hielt und sich ihr dabei darbot; und doch, obwohl Elena die Gebende war, nicht die Nehmende, lag etwas unsagbar lieb Tastendes in der Art, wie sie am Mund der anderen Frau nuckelte; die atemberaubende Zärtlichkeit ihres Umgangs stieß ihn in Trauer und Wahnsinn, weil Elena inzwischen selbst dann ihr Gesicht hinter der Hand verbarg, wenn sie ihm erlaubte, mit ihr zu schlafen, besonders wenn sie zum Höhepunkt kam; sie hatte ihm noch nicht verboten, ihr ins Gesicht zu sehen, aber er war sich ganz sicher, dass seine Blicke sie verunsicherten; alles an ihm verunsicherte sie. Als sie ein Liebespaar geworden waren, war er es gewesen, der gern die Augen schloss; ihr prüfender Blick war so scharf, dass er sich schämte, wenn sein Höhepunkt nahte; ihre Präsenz war fast zu intensiv gewesen, was aber nicht bedeutet hatte, dass er sie nicht liebte, nur dass es ein unumkehrbarer Schritt wäre, sich ihr ganz hinzugeben. Vielleicht fühlte sie jetzt ebenso; wie dem auch sei, er wollte ihr ins Gesicht sehen, weil er sie verlor; aus demselben Grund, aus dem er seine Kamera dabei haben musste, wenn er sah, wie »Geschichte« gemacht wurde, damit nichts davon
verlorenging, brauchte er das bisschen von Elena, das ihm noch immer zur Verfügung stand. Und sie schob die Hand zwischen ihren Mund und seinen, wann immer er sie küssen wollte! Und doch liebte sie ihn; sie versuchte, verständnisvoll zu sein (ständig sagte sie: Das verstehe ich ); sie gab zu, dass sie nicht wusste, wie sie ihn beruhigen konnte – schließlich hatte sie beschlossen, mit ihm zu leben! Sie hätte sich ja auch eine Frau aussuchen können, von D. D. Schostakowitsch ganz zu schweigen.
    Einmal hatte Elena ihn aus Leningrad angerufen, ganz fröhlich, so dass er unmöglich glauben konnte, dass etwas nicht stimmte, nur um ihm zu erzählen, dass es ihr gutging. Sie hatte über Nichtigkeiten mit ihm geplaudert; ihre Stimme hatte ihn erglühen lassen. Dann hatte sie ihn gleich noch einmal angerufen und gesagt: Ich habe dich letzte Nacht betrogen.
    Mit wem?
    Mit Dimitri Dimitrijewitsch. Er war betrunken und ist zu mir aufs Zimmer gekommen. Er fing an zu weinen, und er tat mir so leid. Oh Roman, es tut mir leid, es tut mir leid …
    Und was geschah dann?, sagte er matt.
    Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er und ich, wir – wir … Er war zu betrunken und konnte nicht alles tun, was er wollte. Und er weinte immerzu. Es war grässlich. Hinterher habe ich ihm gesagt, dass wir das nie wieder tun könnten, weil ich ein schlechtes Gewissen hätte. Ich habe ihm gesagt, dass es vorbei ist, und er ist sehr traurig geworden. Ich würde lieber nicht mehr darüber reden, es sei denn, es gibt etwas, was du mich unbedingt fragen musst. Und ich verspreche dir, dass es nie wieder vorkommt.
    Karmen wusste, dass er ihr vergeben musste; das brauchte sie von ihm; er war froh, dass sie ihm am Morgen danach alles gestanden hatte; andererseits, und das war

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