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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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aus sowjetischem Marmor, alle mit einem glänzenden Roten Stern mitten auf der Stirn wie das Kastenzeichen einer Inderin (warum schossen die deutschen Scharfschützen nicht darauf?), alle eine schwarz glänzende Waffe in den weißen Händen, voller Selbstvertrauen und schussbereit. So zeigen die alten Fotografien sie uns, sämtliche Schlaglichter zu leerer Reinheit ausgeblichen. Wlassow lässt sich in ihrer Runde nun nicht mehr entdecken. Auch der Großen Sowjetischen Enzyklopädie war er keine Erwähnung wert. Es gibt jedoch einen wütenden Eintrag über »Wlassow-Männer«. Sehr passend, denn das Verbrechen, das Wlassow beging, war kollektiver Natur: Er stellte eine Armee von Verrätern auf und führte sie gegen das eigene Mutterland ins Feld.
    Bei der zum Scheitern verurteilten Verteidigung Lwows soll er Mut bewiesen und gleichzeitig einen kühlen Kopf bewahrt haben. In einer Reihe kraftvoller Angriffe führte er einen Ausbruch mitten durch die deutschen Linien an und rettete seine Truppen für zukünftige Kämpfe. Dasselbe gefährliche und undankbare Manöver gelang ihm, als der Feind Kiew einnahm und er die Überreste der 37. Armee vor dem Untergang bewahrte. (Zweifellos halfen ihm beide Male die immer schwerer zu leugnenden Gerüchte, dass die Faschisten Kriegsgefangene zu Tausenden mit Maschinengewehren niedermähten.) Kurz vor Beginn der Belagerung erreichte er Moskau. Die Menschen um ihn herum waren so blass und gebrochen wie sein eigenes Spiegelbild in den verdunkelten, gesprungenen Fensterscheiben. Die meisten hatten im Leben noch keine Handgranate geworfen. Wlassow besuchte seine Frau und versuchte,
sie auf das Schlimmste vorzubereiten. Am 10. November 1941 wurde er unter die fünfzackigen Kremlsterne aus rubinrotem Glas einbestellt (ein jeder wog eine Tonne und war von innen strahlend hell beleuchtet) und trat vor den Genossen Stalin persönlich. Es war buchstäblich Schlag Mitternacht. Stockstarr und höflich sah er Ruhm oder Tod entgegen.
    Stalin verlangte, seine Meinung zu den Schutzmaßnahmen für Moskau zu hören. Wlassow teilte sie ihm ungeschönt, aber auch ohne jeden Defätismus mit und empfahl eine tief gestaffelte Verteidigung, um den Angriff der faschistischen Heeresgruppe Mitte bis zum Wintereinbruch ins Stocken zu bringen. Besonders die Verteidigungslinie bei Moschaisk sei zu verstärken. Man dürfe dem Feind Geländegewinn erlauben, in Kalinin zum Beispiel, aber nicht ohne Gegenwehr. In der Zwischenzeit sei es von entscheidender Bedeutung, die Zeit, die wir mit dem Leben der nächsten paar hunderttausend Bauernjungen erkaufen würden, zum Aufbau der sibirischen Reserve zu nutzen.
    Stalin hob den von Sorge gezeichneten Kopf. Er fragte: Wo wird der Feind durchbrechen?
    Wlassow erhob sich, trat an die Lagekarte und sagte: Bei Moschaisk, wie gesagt. Allgemein gesagt, die Jarzewo-Achse wird bald gefährdet sein.
    Sagen Sie die Wahrheit, wie ein Kommunist. Wird Moskau fallen?
    Ich denke nicht. Ende des Monats werden sie anfangen zu erfrieren, und dann können wir unseren Gegenangriff einleiten …
    Womit?
    Nun, Genosse Stalin, wie gesagt, mit der sibirischen Reserve.
2
    Jeder kann Moskau mit Reservisten verteidigen.
3
    Wlassow nickte gehorsam.
    Trotzdem, Ihre Analyse ist korrekt, Genosse Wlassow. Ich werde Ihnen fünfzehn Panzer geben.
4 Was die gestaffelte Verteidigung angeht, legen Sie Ihre Aufstellungen binnen einer Stunde dem Genossen Schukow vor …
    Und noch am gleichen Tag begannen die vierhundertfünfzigtausend bibbernden, ausgehungerten Moskowiter, die mobil gemacht worden waren (drei Viertel davon Frauen, denn alle auch nur bedingt tauglichen Männer waren schon lange an der Front), mit ihren Schaufeln die Verteidigungslinie von Moschaisk zu verstärken. Moschaisk fiel. Die Überlebenden formierten sich neu und hoben nach Wlassows Vor
gaben neue Schützengräben aus: tief und schmal wie die Flure der Lubjanka. Binnen Stunden füllten in Decken gewickelte Leichen einen der Gräben – vergrößerte Abbilder der Würmer, die sie bei Sonnenaufgang fressen würden. Wie Grabsteine senkten sich Schützenbunker in den Boden. Was den noch immer tadellosen Mann anging, er übernahm mit seinen fünfzehn nicht mehr ganz taufrischen Panzern das Kommando über die 20. Armee. Das Artilleriefeuer der Faschisten färbte den Nachthimmel schon rosa. Diesmal hatte er keine Zeit, sich von seiner Frau zu verabschieden, die, mit blassem Gesicht in ihrem Schal und Wintermantel, zu krank zum

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