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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Schmerz der erste Schmerz, der in
die Welt kam; es überraschte ihn, wie viele seiner Soldaten am Ende nach ihren Müttern riefen. Erst Angriff, dann Verteidigung, jedes Mal um den Preis weiter geschwächter Linien; erst Stalingrad, dann alles. Er sprach mit Offizieren aller Ränge, um die Arbeitsgrundlage für einen soliden Plan zu schaffen. Die 6. Armee müsse sich tief gestaffelt aufstellen, erklärte er. Er setzte niemanden unter Druck; sie nahmen seine Vorschläge freiwillig an, mit leerem Lächeln, vermutlich eine Folge des Hungers. Sein Freund Karl-Adolf Hollidt vom XVII . Korps glaubte weiter an ihn. Und Generalmajor Schmidt hielt es noch immer durchaus für möglich, dass die Russen sich ergaben. Von Paulus gefragt, worauf er diese Ansicht stütze, erwiderte Schmidt: Wir können ohne den Juden leben. Dann wären wir besser dran. Aber er kann nicht ohne uns leben. Er ist ein Parasit.
    Generalleutnant Jaenecke schlug erneut einen Ausbruch vor.
    Wohin?, fragte Paulus.
    Nach Woronesch. Das ist die wahre Festung …
    Und dann?
    Das hat der Führer zu entscheiden.
    Aber er hat entschieden, dass wir hier ausharren. Das wissen Sie.
    Wenn wir nach Südwesten ausbrächen, Herr Generaloberst …
    Das ist eine drastische Lösung, sagte Paulus tadelnd.
    Im Jahr 1928 schrieb ein gewisser Hermann Graf Keyserling einen Essay mit dem Titel Das Spektrum Europas . Heutzutage wäre ein Unternehmen wie das seine völlig aus der Mode, denn dieser Spiegel Europas will Kapitel um Kapitel die Grundzüge des Nationalcharakters der europäischen Völker herausarbeiten; außerdem pflegt der Herr Graf einen streng abstrakten Stil, dessen Ambitionen sich auf eine Exaktheit richten, die diesem Leser unbehaglich ist. Dennoch findet sich im Spektrum Europas manch interessante Beobachtung über die Deutschen, deren folgende sich auf den Generaloberst Paulus anwenden lassen mag: Pflichterfüllung, nicht persönliche Verantwortung als Höchstes hinzustellen, beweist primäres Hingabebedürfnis.
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    Nach Neujahr glaubten nicht mehr sehr viele der unrasierten, mit Stroh beschuhten Angehörigen der 6. Armee an den Endsieg. Sie hofften nicht einmal mehr auf Rettung durch die operativen Reserven des OKW . All das lag nun in so weiter Ferne wie der Schnee und die zerstörten Maschinen von Charkow. Irgendwo dort gab es Schuppen voller Decken und Schuppen voller Lebensmittel, Schuppen, gefüllt mit der gelben Salbe gegen Erfrierungen; und es gab Schuppen, in denen sich die Munition stapelte, und Schuppen voller Spandau- MG s und Schuppen voller Benzin, Schuppen voller Schokolade, Schuppen voller Pelzmäntel, die man Jüdinnen abgenommen hatte, die sie nicht mehr brauchten, Schuppen voller williger Ukrainermädchen und Russenfräuleins zum Trost der Verdammten, Schuppen aus Wärme, Schuppen des Lebens; was aber die Reserven anging: Soldaten, um die 6. Armee zu retten, würde es keine mehr geben.
    Warum eigentlich nicht? Im Juni war der Jahrgang 23 einberufen worden. Was, wenn sie …?
    Was ist mit unseren Hiwis?
    Sie werden die Deutschen nicht im Stich lassen.
    Aber das sind Slawen!
    Na und? Wenn die Roten hier einbrechen, landen die Hiwis alle als Erste in der Grube! Das wissen sie genau …
    Aber vielleicht …
    Schmidt sagt …
    Abknallen muss man die, sage ich. Wir haben selber nicht genug zu fressen, wie sollen wir da dieses Russengeschmeiß durchfüttern.
    Genau das denke ich auch. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, bevor es zum Aufstand kommt.
    Haben wir keine anderen Sorgen? Die sind nicht gefährlicher als Küchenschaben; das sind bloß Hiwis!
    Ich würde gerade gerne eine Küchenschabe fressen.
    Zeitzler hat sich auf Stalingrader Rationen gesetzt. Er will dem Führer zeigen, wie verzweifelt unsere Lage ist …
    Wo bekommt er die täglichen zweihundert Gramm Pferdefleisch her?, murmelte General von Hartmann mit bösem Lächeln. Wahrscheinlich schlachtet er jeden Tag ein Pferd, aus Prinzip, oder er hält sich einen Juden, der es für ihn schlachtet. Diese Etappenschweine …
    Irgendwo, in der Welt, in der unser Führer lebte, musste es Reserven
ohne Ende geben, und diese Reserven kamen jetzt aus ihren Kisten gestiegen, und die Kampffliegergeschwader, all ihre Flugzeuge säuberlich aufgereiht, füllten sich von selbst mit neuen Männern, die schon in den Cockpits saßen, ein Hakenkreuz auf dem Leitwerk einer jeden Messerschmitt, ein Dreieck und ein schwarzes, weiß umrandetes Balkenkreuz an jeder Flugzeugbrust, alle Propeller

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