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Fallschirmjäger hinter seine Linien geflogen hatte. Das ist mein Schicksal, sagte er sich. Sie fotografierten ihn bei einer Ansprache vor dem Bund Deutscher Offiziere, dessen Mitglieder heute so bedeutungslos sind wie die deutschen Prinzen aus dem 18. Jahrhundert mit ihren gepuderten Perücken.
Im Februar 1946 sehen wir ihn, wie er versucht, mit der Schläue eines Häftlings so offen in die Welt zu blicken wie vor seinem Untergang, während sein Blick in Wahrheit mürrisch im Gefängnis seines Schädels auf und ab tigert und sich selbst ausweicht; so sitzt er gebeugt in Nürnberg im Zeugenstand und drückt sich die Kopfhörer fest an die eingefallenen Schläfen. Die russischen Ankläger nannten ihn im Scherz ihre Geheimwaffe , so sehr verblüffte sein plötzliches Auftauchen das Gericht. (Die anderen nannten ihn das Gespenst von Stalingrad .)
Generalleutnant Roman Rudenko wollte von ihm wissen, welche seiner ehemaligen Kameraden (die ihn nun von der Anklagebank aus anstierten) sich aktiv an den Vorbereitungen der imperialistischen Aggression gegen die UdSSR (oder, wie sein früherer Arbeitgeber gesagt hätte, die jüdisch-asiatischen Mächte) beteiligt hätten. Gelassen und ohne zu zögern nannte Paulus sie alle.
(Ich habe beim Führer immer für ihn Partei ergriffen, flüsterte der »nickende Arsch«, Feldmarschall Keitel, der bald gehängt werden würde. – Es ist eine Schande für Paulus, gegen uns auszusagen!)
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Als Nächstes wollte Rudenko mit scharfem, wachem Blick wissen: Habe ich Ihrer Aussage korrekt entnommen, dass die Hitlerregierung und das Oberkommando der Wehrmacht schon lange vor dem 22. Juni 1941 einen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion vorbereitet haben?
Paulus starrte auf Rudenkos Doppelreihe aus glänzenden Knöpfen. Er erwiderte: So, wie ich die Entwicklungen beschrieben habe, und in Verbindung mit allen erlassenen Direktiven steht das ganz außer Frage.
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Ganz hinten im Gerichtssaal saß sein stark abgemagerter Sohn Ernst und blickte schüchtern und kläglich zu ihm hin.
Der Verteidiger rief sich Görings Instruktionen ins Gedächtnis (Fragen Sie das dreckige Schwein, ob er ein Verräter ist! Fragen Sie ihn, ob er die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat …), räusperte sich und fragte: Wie steht es mit Ihnen, Herr Feldmarschall Paulus? Wenn dies ohne Frage ein Angriffskrieg war, warum haben Sie sich dann daran beteiligt?
Der letzte Feldmarschall neigte den Kopf auf die Brust, zog die Schultern ein wie ein Vogel am Abend die Flügel und erwiderte: Ich habe diesen Punkt nicht ganz verstanden, denn wie die meisten deutschen Offiziere fand ich nichts Ungewöhnliches daran, das Schicksal eines Volkes und einer Nation auf Machtpolitik zu gründen. Ich befand mich in dem Glauben, meine Pflicht für mein Vaterland zu tun …
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Man eskortierte ihn hinaus, und er tat, als blicke er streng geradeaus, wandte seinen Blick dabei aber erneut nach innen, um die todgeweihten Angeklagten auf den Anklagebänken nicht sehen zu müssen, umstanden von steifen, weiß behelmten Vertretern der Siegerjustiz. Als Sieger in der Schlacht um Stalingrad hätte auch er dort gesessen; denn einen Krieg gegen unsere Sowjetunion konnte man nur verlieren. (Dieser Mann ist erledigt, merkte Außenminister Ribbentrop an. Er hat sich selbst erniedrigt. – Natürlich, sagte General Jodl, der während eines Vortrags von Paulus in der Wolfsschanze einmal gegähnt hatte.
89 Coca hatte ihrem Mann geraten, ihn wie Luft zu behandeln. – Er ist völlig gescheitert, fuhr Jodl fort, aber ich kann es ihm nicht verdenken; er muss seinen Hals retten. – Selbiges gelang den beiden Angeklagten nicht.) Er trieb an den schwankenden Fassaden der zerstörten deutschen Häuser vorüber, an den Bruchstücken der Stadtmauer, zurück in sein russisches Gefängnis.
Erst Hitler, dann Stalin. Er blieb der Arbeiterklasse treu, die ihm vergeben und ihn aufgenommen hatte. Nach Stalins Tod anno 53 erlaubte man ihm, nach Dresden zu ziehen, das sich gerade einen Namen in der Optik und Elektrotechnik machte.
An seinem ersten Tag in der Freiheit ging er dort, nun stark gebeugt, spazieren und stieß auf ein Konzert in einem ausgebombten Saal, dessen verrußte, ihrer Gliedmaßen beraubte Rokoko-Putten sich so vertrauensvoll an die Wände klammerten wie gefrorene Leichen an die russischen Straßen; und dort, inmitten eines Haufens aus dunklen Abendanzügen, spielten die Musiker ein Streichquartett eines gewissen D. D. Schostakowitsch,
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