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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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und schmutzig – Schnee in den mit Granattrichtern übersäten Straßen, dunkle Häuser, zugepflastert mit zerfledderten Bekanntmachungen von Verordnungen und Vergeltungsmaßnahmen mit Adler und Hakenkreuz, dann noch mehr Schnee, gefrorener Müll, Hakenkreuzwimpel, die ungesehen im Nachtwind flattern und knattern, und irgendwo, in einer engen, bis an die Dächer mit Schutt gefüllten Gasse vermutlich, schwebt der Geist von Bertha, den die bibbernden deutschen Soldaten, die mit blaugefrorenen Gesichtern auf die graue Morgendämmerung warten, nie zu sehen bekommen werden. Sie ist nicht Bertha; das weiß ich. Sie legt sich die Hand an die Wange. Sie
blickt auf den Billardtisch hinab. Bestimmt gähnt sie gleich. Ihre Lippen wölben sich kaum. Ihre Beine scheinen ihr bis an die Brust zu reichen. Ihre Brüste sind unauffällig, aber fest. Sie ist schnittig wie ein deutsches Flugzeug. Dieses blonde Frauenmetall schießt durch die Lüfte und verzehrt mit einer Magnesiumflamme sich selbst. Die Flamme flackert nicht. Sie lächelt matt. Ein Spieler wirbelt seinen Queue herum wie einen Propeller; auch er würde fliegen, wenn er könnte, aber er ist zu alt und zu fett. Die Jugend wird siegen. Die Jugend, das sind ihre festen, fast flachen Pobacken, die sich nur ganz dezent aerodynamisch runden und nur ganz leicht hervorstehen. Und ihr Gesicht – ein vollkommener, blanker blonder Stein! Diese griechischen Karyatiden, weiblich sind sie und doch keine Menschen. So ist sie also. Vielleicht möchte ich kein Mensch sein. Ich möchte sie sein. Ich möchte sie essen wie Kaviar. Aber wenn ich ihre Güte essen könnte, sie würde mir nur auf der Zunge wegschmelzen.
    Gerstein gegenüber saß ein anderer-Mann und blickte ihn prüfend an. Schließlich sagte der Kamerad freundlich: Machen Sie sich nichts draus, Gerstein. Nach meiner ersten Hinrichtung habe ich auch gekotzt.
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    Seine Frau flehte ihn an, diezu verlassen, ihr und den Kindern zuliebe. Sie nahm ihn an der Hand, zerrte ihn vor einen Spiegel und flüsterte: Sieh dich doch an, Kurt! Sieh doch, wie es dir zusetzt!
    Stolz sagte er: Ich habe diesen Weg selbst gewählt.
    Da sagte sie: Wie kannst du, ein ehrenwerter Mann, ein gläubiger Christ, solche Dinge tatenlos mit ansehen?
    Sein Gesicht panzerte sich, und er erwiderte: Ich bin froh, dass ich diese Gräuel mit eigenen Augen gesehen habe, so dass ich, wenn Gott will, eines Tages darüber Zeugnis ablegen kann.
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    Sie lachte ihn aus.
    Da wirbelte er herum, als wollte er sie schlagen; und er sagte: Vielleicht reiche ich lieber die Scheidung ein. Was meinst du? Dann bist du in Sicherheit, falls mir etwas zustößt …
    Nein, Kurt, nein …
    Also gut. Wir dürfen nicht nur an uns denken.
    Aber tat er nicht genau das? Bei seiner nächsten Reise nach There
sienstadt, wieder in geheimer Mission für den »Schlauen Hans« Günther, gab es weniger Güterwaggons als sonst, also war er mit der Erfassung früher fertig als üblich. Als er in Prag aus dem Zug stieg, wollte er Mitbringsel für seine Familie kaufen. Er war ein-Mann; er konnte gehen, wohin er wollte! Tschechen wie Deutsche, alle blickten sie ihn furchtsam an, er hätte schreien können. Kaltlächelnd schnipste er sich einen imaginären Fussel von der Totenkopfmütze. Er nannte sich einen »Spion Gottes«. In diesen verwinkelten Gassen zwischen den hohen Mauern voller Fenster, denen nichts entging, hingen die Hakenkreuzfahnen zu beiden Seiten so akkurat herab wie in Berlin, so dass er oft drei voraus zu seiner Linken sehen konnte, drei weitere zur Rechten, bis die Gasse auf einen gedrungenen grabesschwarzen Torbogen stieß. Er überquerte eine steinerne Brücke über die Vltava, Moldau nennen wir sie heute, und kam auf eine Straße, an der eine alte Frau Honig verkaufte. Sie hockte auf dem Kantstein und summte müde vor sich hin. Etwas an ihrem Gesicht erinnerte ihn an die katholische Schwester, die in seiner Kindheit für ihn gesorgt hatte; sie war als einzige lieb zu ihm gewesen. Als sein Schatten auf die alte Frau fiel, blickte sie auf und schrie.
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    Die anglo-jüdischen Bolschewisten nennen uns »Totalitaristen«, und tatsächlich drücken wir uns im ganzen Reich, sogar in der Wolfsschanze, mit Hilfe der gleichen Signale aus; die vorläufige Entwarnung nach einem Fliegeralarm wird zum Beispiel durch drei hohe Töne in einminütigem Abstand dargestellt; dann, nach Bestätigung des Endes der feindlichen Bedrohung, erklingt eine Minute lang ein ununterbrochener Sirenenton

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