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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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versprudeln; und vielleicht hatte ich noch alle möglichen anderen Motive, aber an die kann ich mich nicht mehr erinnern. Als ich vor dem Eisernen Vorhang stand, wo die
Finsternis besonders finster ist, richtete der Grenzer seine Lampe so lange auf mich, dass ich mich nach einer Weile fragte, ob er das schon immer getan hatte; und dann sagte er: Warum flackert Ihr Blick heute so?
    Erschrocken und furchtsam versuchte ich, mir eine Antwort auszudenken, ganz zappelig, und dann konnte ich sehen, wie er sich hinter dem getönten Glas tatsächlich vorbeugte, ganz als würde ich in die dunklen Wasser des Krjukow-Kanals hinabblicken und die noch dunklere Masse eines Fisches erspähen oder eines Ungeheuers, das auf mich zuschwamm; ja, er beugte sich vor und säuselte: Was sind Sie wirklich?
    3
    Ich hatte Angst vor diesem Beamten; also beschloss ich, mir beim nächsten Mal einen illegalen Weg zu graben; alle wühlen wir uns wie Totengräber durch diesen Trümmerschutt, immer wachsam, weil ein fliehender-Mann hier Halt gemacht und ein goldenes Krönungsschwert vergraben haben könnte oder vielleicht gar einen Koffer voller goldener und silberner Löffel aus einem Schloss in Krakau; wir alle verstecken Dinge, wenn wir den Tod nahen sehen, und es mag sehr wohl sein, dass wir uns im Geiste auf unsere eigene Beisetzung vorbereiten, indem wir unsere Schätze vergraben. Den Pharao muss das Wissen getröstet haben, dass sein Zepter und seine Frauen für immer bei ihm schlafen würden. Gleichzeitig möchte man natürlich auch glauben, dass man aus diesem Schlaf wieder aufwachen kann, unter dem Vorhang hindurchkriechen und seinen Besitz wieder in Anspruch nehmen, sicher versteckt (hofft man jedenfalls!) vor der Enteignung durch Kommissar Tod – sind die Menschen nicht absurd?
    Als ich den Eisernen Vorhang an einer Ecke anhob, in der Gegend, die später als Checkpoint Charlie bekannt werden würde, sah ich dahinter Finsternis, aber ich war vorbereitet; ich hatte mir die neueste »Adler«-Taschenlampe besorgt! Jetzt konnte ich Kuppeln sehen, Glocken, Adler und runde Fenster. Die Lider wurden mir schon schwer, aber auch darauf war ich vorbereitet; ich fing an, mich zu kneifen. Das musste Jugoslawien sein. Die Bauwerke des Kaiserreiches Österreich-Ungarn, so viele Einschusslöcher sie auch trugen, breiteten sich
vor mir aus wie die Seiten eines Buches mit Fenstern anstelle der Worte. Was hätte ich in ihnen lesen sollen? Dieser Ort (so habe ich mir sagen lassen – zufällig von Jugoslawen) ist die Seele Europas, die slawische zumindest. Aber warum eine von anderen gezeichnete Karte akzeptieren? Leicht wie eine Seifenblase schlafwandelte ich weiter gen Osten. Was sah ich? Oder besser: Was sah ich nicht ? Meine Mär ist vollgestopft mit Nippes für die Augen, nichts davon ist wichtig; das ist sozusagen alles Schutt; und wenn ich Sie durch eine Gasse führe, wo die Marionetten roter Sterne und roter Spinnen tanzen, ist das einfach die Realität, die uns, da sie sich uns nicht anverwandelt, von Natur aus fremd bleibt wie die hübschen Flämmchen, die Zierrat sein sollten und Verrat am Kinde üben, indem sie ihm die Finger verbrennen. Im Grunde ist nichts so real wie eine gewisse alte Westberliner Dame in Schwarz, die mich aus tiefliegenden Augen liebevoll anblickt und neben ihrem leeren Korb hockt; dieser Tage sehe ich sie jeden Morgen, kurz bevor ich unter der Mauer hindurchschlüpfe. Sie ist eine Agentin der Organisation Gehlen und trägt den Decknamen NEY . Sie ist immer dieselbe und sie schläft nie. Und da war ich nun in Weißrussland; nun ja. Deshalb habe ich wohl angefangen, von blassen Dingen zu träumen – Schnee vielleicht; egal, was es auch war, es war so weiß wie die Dienstfarben des Frontkommandos der Organisation Todt … also kniff ich mich wieder. Und nun suchte sich der Strahl meiner Taschenlampe einen slawischen Helden auf einem sich aufbäumenden Schlachtross heraus; das Giebeldreieck trug die Basreliefs weiterer Slawen; dann kamen Kriegskränze, Gräber und lodernde Feuer, der Nationalismus wurde artig in kommunistischen Grenzen gehalten. Ich gebe zu, dass ich inzwischen wirklich müde war. Die Gesichter der Einwohner waberten wie Seetang über mich hinweg. Irgendwie war ich in eine Menschenmenge geraten: Slawen oder Traumgestalten; ihre knochigen weißen Gesichter, schrecklich anzusehen mit ihren schwarzen Mündern und leeren schwarzen Augenhöhlen, starrten mich unverwandt an, aus langen schwarzen Umhängen und

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