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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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als akronyme Verdinglichungen der Fühler des schwarzen Telefons. Was wären sie anderes gewesen als literarische Figuren?
    Lina aber hatte sich verlaufen. Dies war einmal eine andere Straße gewesen, sie trug einen anderen Namen. Nun hieß sie Ernst-Thälmann-Straße, und ihre offen verlegten Rohrleitungen warfen Schatten in den Schnee.
    2
    Als sie gegen Ende des letzten Jahres vor dem Mauerbau nach Ostberlin einreiste, war sie sich irgendwie sicher gewesen, dass jemand auf sie warten würde, ihr Vater oder ihre Mutter vielleicht; sie wusste noch, wie sie sich mit ihr getroffen hatten, als sie noch ein Kind gewesen war; sie rechnete jedenfalls mit jemandem, wer es auch sei. Aber war so nicht das Leben? Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, hatte ihr Vater immer gesagt.
    Offengestanden hatte sie ein wenig Angst vor dem Schritt gehabt. Sie hatte über das andere Deutschland das Gleiche gehört wie wir alle. Aber sie musste Freyas Andenken ehren.
    Dieses neue Ostdeutschland zu betreten war, als ginge man zehn Jahre in der Zeit zurück. Ein Wirtschaftswunder hatte es hier natürlich nie gegeben. Die Menschen kamen ihr hungrig und heruntergekommen vor.
    Aus Ostberlin nahm sie den Zug in Deutschlands Herz – dunkle Bäume über blonden Wiesen, über allem die Wolken –, wo es ihr schien, als hätten sich fünf weitere Jahre ungeschehen gemacht! Burgruinen, vernagelte Wohnungen, leere Städtchen. All diese Bühnenbilder waren von der Maschinerie der Politik in Richtung Osten abgeschoben worden, damit sich das Märchen vor gebannten Zuschauern neu entfalten konnte. Sie kam an einem Plakat vorbei, das abzunehmen sich niemand die Mühe gemacht hatte:Es war von Efeu überwuchert. Welcher Held würde Dornröschen wachküssen?
    Am Dresdner Bahnhof wartete ihre Familie nicht auf dem Bahnsteig; wie hätte Lina vorhersagen können, wann sie ankommen würde?
Sie stieg mit ihrem einen Koffer aus dem Zug und stand in der kalten und schmutzigen Halle. Hier hatte sie einst einen Leutnant geküsst, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte; er hatte mit schlesischem Akzent gesprochen. Wo mochte er jetzt sein? Im Osten oder unter der Erde.
    3
    Linas große Liebe war eine russische Dolmetscherin namens Elena Konstantinowskaja gewesen, der zuliebe sie ihre ach so weißen Knie angezogen hatte; noch nie hatte sie so etwas mit einer Frau getan, und es war auch nachher nie wieder dasselbe, nicht so, wie es mit Elena gewesen war.
    Es war in Berlin im letzten Jahr der Weimarer Republik: Hansis mit roten Lippen und in langen roten Kleidern leckten an ihren Sektquirlen und blickten Lina an. In dem einschlägigen Lokal in der Schwerinstr. 13 gewann sie den Wettbewerb »Schönes Knie«. Dabei sehnte sie sich die ganze Zeit über nach Elena. In der Verona-Diele brachten ihr Gougnetten mit vollen Brüsten und Männerhüten das Tangotanzen bei. Freya wäre entrüstet gewesen. Ich habe sie mit Bubikopf gesehen, für dessen Schlangenlocken sie dem Friseur zwei Tageslöhne zahlte. Die Zigeunerlotte im Toppkeller, die immer lieb zu ihr war, sogar freitagabends, brachte sie mit Christa, Grete und dann, aus Verzweiflung, mit der Roten Minna zusammen, aber Lina hatte nie das Gefühl, dass ihre weißen Schenkel so strahlten wie damals mit Elena.
2
    Du siehst dich nie im Spiegel an, sagte Lotte. Ein verräterisches Zeichen. Frauen, die sich nicht gern selbst ansehen, lieben keine anderen Frauen. Du gehörst nicht wirklich zu uns.
    Lina erwiderte: Ich bin einfach nur immer enttäuscht, wenn ich es tue.
    Kürze und Neuheit hatten zur Schönheit von Linas Erfahrung zweifellos beigetragen; erst im Rückblick schien es, als hätte sie länger gewährt als eine der Weißen Nächte von Leningrad. Sie erinnerte sich, wie sie auf der Seite lag und auf ihre Liebhaberin herabblickte, bis Elenas Hals im Morgengrauen blass zu leuchten begann; jetzt konnte Lina ihren Puls sehen, schnell und gesund, als wolle jemand von ihr forteilen. Elenas volle rote Lippen waren leicht geöffnet, und ihr Nikotinatem
ging fast lautlos. Als sie langsam aufwachte, wandte Lina sich ab, um Elena nicht mit ihrem sehnsüchtigen Blick zu quälen. (Das war Elenas Fluch: So viele Menschen liebten sie so tief, dass sie alle enttäuschen musste.)
    Was ist in Leningrad mit dir passiert?, fragte Freya wieder und wieder.
    Da hatte sich die Kälte zwischen ihnen ausgebreitet.
    Und dann? Eine Regierung der nationalen Erneuerung.
    Nach Stalingrad war Lina zwangsverpflichtet worden und musste

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