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die Zünder in Achtundachtzig-Millimeter-Granaten einsetzen. 1945 wurde sie erneut zwangsverpflichtet, diesmal von den Amis, die uns über die heißen, stinkenden Weiden ziehen ließen, auf denen die Leichen aus den Konzentrationslagern ausgelegt waren: stinkende, eitrige Beine, streichholzdünn, prüde mit Decken verhüllte Lenden. Wie hatte das geschehen können? Wir hatten nie etwas davon gehört, höchstens ein leises Flüstern. Die Frau vor ihr übergab sich. Aber Lina blickte starr geradeaus, angeekelt, aber nicht überwältigt; denn als der Krieg zu Ende war, hatten wir alle schon dem Verderben ins Antlitz geblickt.
Dann kam der Kalte Krieg. Wir wurden wieder zwangsverpflichtet.
Linas Augen waren noch braun, aber ihr Haar war grau.
4
Können Sie sich noch an die wuselnden archaischen Figuren am Georgentor erinnern? Sie folgten einem Totengerippe, wie in den Zeichnungen der Käthe Kollwitz. Und nun hatte ihr Totengerippe sie alle ins Nichts geführt. Das Feuer hatte sie verschlungen.
Ihre Familie war zu Hause versammelt. Sie hatte sie seit anno 42 nicht mehr gesehen. Als sie die ausgehungerten, unterwürfigen Gesichter sah, brach sie in Tränen aus.
Sie saßen an einem ovalen, weiß gedeckten Tisch, tranken Tee und stießen mit Wein auf Linas Geburtstag an; an der Wand hing ein Foto von Freya, und in klinisch reiner Nacktheit lächelte ein Engel aus Porzellan auf sie herab.
Ihr Vater, der sehr sehr alt geworden war, versuchte ihr zu erklären, wie sich alles zugetragen hatte: Wir haben versucht, sie mit Sperrfeuer
aus unseren Achtundachtzigern zurückzuschlagen, aber es gab zu viele Flugzeuge, und sie flogen zu schnell und zu hoch.
Das waren zum Glück alles alte Kamellen. Die anglo-amerikanischen Verbrecher hatten in unserer Zone nichts zu sagen. Dresden hatte die tröstliche Anwesenheit des Rotarmisten schätzen gelernt.
Sie hatte Schokolade und Kaffee mitgebracht. Ihre Mutter weinte.
Und Freya? Bisher war ihr Name nicht gefallen. So ist das bei uns Deutschen.
5
Hatte es Freya je gegeben? Porträts lassen sich fälschen. Warum sie nicht verstoßen? Die Toten verleugnen heißt, den Tod selbst verleugnen. Warum allen Schmerz horten, so wie Schostakowitsch? Wenn wir aus dem Feuersturm eines Alptraums erwachen, sehen wir uns Fälschungen und Unwahrscheinlichkeiten gegenüber. Existieren wir überhaupt noch? Wir brauchen einen geheimen Spiegel – Elena zum Beispiel.
Es war einmal, da ging Lina, die sie ein schmalhüftiges Mädi nannten, in die Auluka-Diele, um sich in anderen Frauen zu spiegeln und so zu lernen, was für eine Art Frau sie wirklich war. Ein verarmter russischer Prinz spielte Klavier, aber es war nicht er, der Lina an Elena erinnerte; es waren die künstlichen Schneebälle: so weiß, so kalt und daher so russisch! Elena hätte das Café Olala in der Zietenstraße vorgezogen, dessen verdreckte Fenster und zerkratzte Schallplatten »echter« waren, aber was ist schon echt, wenn wir in einem Märchen gefangen sind?
Mein Spiegelbild im Schaufenster an der Thälmann-Straße zeigt nicht mich. Es zeigt Elena Konstantinowskaja. (Wir sind beide so blass, nicht wahr?) Ich strecke die Hand nach ihr aus, und zwischen ihrer Handfläche und der meinen entdecke ich – den Mittelpunkt Europas. Elena kann mein Spiegel sein; wie sehne ich mich danach! Aber Freya nicht – ich möchte kein Totengerippe als Spiegelbild sehen.
6
Auf dem nass glänzenden Kopfsteinpflaster des Altmarkts standen die Menschen im Licht des HO -Warenhauses Schlange. Leuchtende Dreiecke waren darin, leuchtende Sterne, vollendete Statuetten. Und dann, hinter dem HOWA , verschwand die Ernst-Thälmann-Straße im Dunkel.
Hier hatten die Toten gelegen, halb verhungerte Hitlerjungen, und alte Männer in langen müden Mänteln waren gekommen und hatten einen nach dem anderen an Armen und Beinen auf Pferdekarren geworfen, ab zur Verbrennung. Das hatte ihre Kusine Vala ihr erzählt. Valas Haare waren grau geworden, und ihr fehlten die Vorderzähne. Sie seufzte in einem fort: Oh Lina, das Leben ist so schwer.
3
Ist Freya hier verbrannt worden?
Oh nein, sagte Vala.
War es bei der ersten oder der zweiten Angriffswelle? Ich habe ein Recht, das zu wissen, Vala. Sie war meine Schwester.
Bei der zweiten Angriffswelle, sagte ihre Kusine. Reden wir nicht darüber.
7
Es war einmal, da steckte ein Mädchen mit blonden Zöpfen einem Freiwilligen der Legion Condor ein Blumensträußchen ins Knopfloch. Ein anderes Mädchen, ernster und
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