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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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weniger blond, hatte Schwierigkeiten mit ihrem Edelweiß; ihr Soldat blickte sich ein wenig verunsichert auf die Brust und fragte sich, ob sie auch alles richtig machte und ob er andernfalls etwas sagen dürfe. Dieses zweite Mädchen war Freya.
    Wer war das lächelnde Mädchen? Immer ist da noch eine andere, eine, die ohne Bedeutung bleibt. Auch sie ist vielleicht tot, und wir verleugnen sie.
    Wer also war Freya? Sie ist tot, ist es da nicht bedeutungslos?
    Natürlich war die ganze Familie dort gewesen. Sie waren in Linas Berliner Wohnung untergekommen. Das musste 36 oder 37 gewesen sein, als die Frauenkirche noch stand, als ihre Orgel noch erklang. An jenem Tag hatten sie die Ehre, mit eigenen Augen mitanzusehen, wie der Schlafwandler in einer offenen Klemm L20 vorüberschwebte. Und die Legion Condor marschierte durchs Brandenburger Tor …
    8
    Das zerstörte Schloss, dann den Kulturpalast, dann den Altmarkt, das war es, was Lina täglich sah, wenn sie aus dem Fenster blickte. (Wo waren die Russen? Sie sonderten sich ab; sie hatten einen Ort für sich.)
4 Bei » HO netta Damenmoden« am Altmarkt konnte man sich ein langes Kleid kaufen, Schuhe oder einen Koffer vielleicht. Diese Dinge sahen verlorener aus, als sie wirklich waren, denn Lina und Vala bestaunten sie von draußen, als sie an jenem Dezemberabend unter den Arkaden standen.
5
    Und genau da, flüsterte Vala, stand dieses kleine blonde Mädchen neben einem Karren voller Leichen und weinte, genau da, wo das kaputte Rohr ist. Das niedlichste kleine Mädchen, das du dir vorstellen kannst! Hundert Prozent arisch. Und irgendwie frage ich mich immer, was aus ihm geworden ist.
    Und die beiden standen da und starrten müde auf das freiliegende Rohr im brandigen, gefrorenen Schlamm.
    9
    Freya ist nicht im Feuersturm umgekommen, oder?, fragte Lina.
    Vala nahm ihren Arm und führte sie auf einen Platz ohne Leben, rund um die Kreuzkirche gab es nichts als weiße Fußspuren im weißen Schnee, und dann sagte sie: Bist du dir sicher, dass du das wissen willst?
    Ja.
    Also gut, es war am Jahrestag der Oktoberrevolution, wenn die Rotarmisten sich immer betranken. Heute ist es natürlich nicht mehr so schlimm. Damals sind sie zu uns in die Häuser gekommen, Jahr auf Jahr.
    Ich habe davon gehört.
    Genau. Alles, was sie uns damals erzählt haben, stimmte. Das sind keine Menschen. Oma war zum Beispiel schon über achtzig. Hast du jetzt genug gehört?
    Lina schwieg. Sie waren eins von einem halben Dutzend dunkel gekleideter Paare auf dem grauen Bürgersteig.
    Vala sagte: Sie sind mit vorgehaltener Waffe auf die Entbindungsstation und haben die Schwester vergewaltigt, die sie überreden wollte, eine junge Mutter zu verschonen, die eben entbunden hatte. Keine Namen; du kennst sie. Vielleicht wusste sie, was ihr geschehen würde, dann bewundere ich sie für ihren Opfermut. Du kannst es dir nicht vor
stellen, Lina. Sie haben uns auf offener Straße vergewaltigt, in den Zügen, auf den Feldern. Sie haben uns verhaftet und vergewaltigt. Sie haben uns vergewaltigt, während wir ihnen die Böden schrubbten. Natürlich war es nicht mehr ganz so schlimm wie zu Anfang, als sie uns gerne vor unseren Männern vergewaltigt haben und dann …
    Und du? Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst …
    Fünf Mal, am hellichten Tage. Auf einem toten Pferd mitten auf der Großenhainer Straße, direkt gegenüber vom Weberschen Weinkeller …
    Vala …
    Aber hinterher haben sie mir nur ein paarmal ins Gesicht getreten, wahrscheinlich weil ich ein braves Mädchen war. Heinz war schon tot, das weißt du ja, also musste er das wenigstens nicht mitansehen … Entschuldige, dass ich dir das erzähle.
    Lina kannte Vala. Sie wusste, dass sie zum eben Gehörten am besten schwieg, jetzt und in alle Ewigkeit. Außerdem sah sie Vala lieber nicht ins Gesicht und nahm schon gar nicht ihre Hand. Also sagte sie nur: Ich verstehe. Und Freya?
    Bürgermeister Petzold aus Saupersdorf hat den Russen Feste ausgerichtet, mit Wodka und jungen Mädchen. So hat er sich im Amt gehalten. Den Rest kannst du dir denken. Können wir jetzt gehen? Ich muss noch bei Meyer zwei Brote kaufen, bevor nichts mehr da ist.
    Es tröstete Lina, dass niemand ihre Schwester hatte umbringen wollen; sie wird einfach, wie Vala es in Bezug auf die Großmutter gesagt hatte, da drinnen zu zart gewesen sein.
    Euer Vater hat getan, was er konnte, sagte Vala. Er ist sogar auf die Kommandantur gegangen, sich beschweren, dazu gehörte

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